Karl Schwanzers Philips-Haus von 1965 wird mit einem völlig neuen Konzept im Inneren wiedereröffnet. Ein Zeichen für den Wandel der Zeiten

Die Aussicht ist spektakulär, keine Frage. Zwei Fensterreihen, zwölf Stockwerke über einem Bergrücken. Zur einen Seite Wien, zur anderen Seite der Speckgürtel und das Speckband entlang der Südautobahn, und eine Ahnung des ferneren Südens hinter dem Schneeberg. Es war ein langer Weg zu diesem Panorama. Das ehemalige Philips-Haus heißt schon "PhilsPlace", doch der Schriftzug am Dach fehlt noch. Der zwölfte Stock heißt schon "Skyloft", doch noch hängen ein paar Kabel von der Rohdecke.

Noch im März machte das Projekt Schlagzeilen, als eine Hausdurchsuchung bei den Investoren vermeldet wurde; zwei beteiligte Baufirmen hatten eine Klage mit Streitwert von fast zwei Millionen Euro eingebracht. Das sei Geschichte, winkt Norbert Winkelmayer auf Anfrage ab und bemüht sich mit strahlendem Optimismus, dem Namen seiner Firma gerecht zu werden: der Sans Souci Group, die auch das gleichnamige Luxushotel neben dem Volkstheater entwickelt hat. Am Wienerberg tat man sich mit der Gruppe 6B47, unter anderem Investoren des Althan-Quartiers beim Franz-Josefs-Bahnhof, zusammen. Aus dem ehemaligen Bürobau, der nach dem Auszug des niederländischen Konzerns leer stand, wird nun ein sogenanntes "Vertical Village" mit 135 komplett möblierten Full-Service- Apartments in den Obergeschoßen und kommerziellen Mietern in den unteren Etagen: zwei Supermärkte, ein Fitnesscenter, eine Bank und das heutzutage unvermeidliche Vapiano, hier in der Luxusvariante, entworfen von Designstar Matteo Thun. 

Schön und gut, aber was lockt Investoren ausgerechnet an den Wienerberg? Ein Blick aus dem Skyloft auf das isolierte und charmelose Hochhausgehege um die Twin Towers: Nein, das generiert sicher keinen sexy Mehrwert. Ein Blick nach Süden auf die frischen Baugruben der Biotope City auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen: Da leuchten die Investorenaugen schon eher. Noch dazu wird direkt vor dem PhilsPlace ab 2028 die verlängerte U2 halten. Ergo: verheißungsvoll nach oben weisende Pfeile auf Flipcharts und Diagrammen.

Die Manifesta 12 in Palermo bündelt die globale Kunst und den lokalen Stolz zu einem überzeugenden Statement für ein offenes Mittelmeer.

Palermo, vormittags, 11.30 Uhr. Euphorischer Jubel. Vier Knaller aus vier Kanonen, aus vier Ecken rieseln tausende bunte Papierstreifen auf die Menschenmenge, die sich auf der Quattro Canti versammelt hat, dort, wo sich die zwei Hauptachsen der Stadt kreuzen. An den vier barocken Eckbauten, direkt unter den Steinfiguren spanischer Könige, hängen ebenso bunte Stoffbanner, bestickt mit Figuren.

Farbkanonen und Textil sind Teil einer Performance der Künstlerin Matilde Cassani für die Manifesta 12, die an diesem Tag in Palermo eröffnet wird. Sie kreuzte dafür zwei Grundelemente der palermischen Identität: die jährliche katholische Prozession der Santa Rosalia und die kulturelle Mischung der Stadt. Die Motive der Textilien erarbeitete sie gemeinsam mit der tamilischen Community.

Ippolito Pestellini Laparelli ist in der Menge leicht auszumachen, er überragt die Köpfe seiner Landsleute deutlich. Der in Palermo geborene Architekt arbeitet in Rem Koolhaas' Rotterdamer Büro Office for Metropolitan Architecture (OMA) und ist einer der "creative mediators" der Manifesta. Drei Jahre lang arbeiteten Laparelli und das Team von OMA an der Erstellung des "Palermo Atlas", einer Bestandsaufnahme seiner Heimatstadt. "Wir haben dafür intensiv mit den Bürgern zusammengearbeitet", erzählt Laparelli, "wir haben sie Geschichten erzählen lassen." Vor allem aber wurde in der für OMA typischen Datensammelwut die Position Palermos in Zeit und Raum kartiert. Alle unvollendeten und leerstehenden Gebäude, alle Filme, in denen Palermo eine Hauptrolle spielt, und eine Abhandlung über die sogenannte Plünderung von Palermo, die wilde und explosive Stadterweiterung der 1950er- bis 1970er-Jahre, als sich die Männerbünde aus Mafia, Politik und Kirche eine goldene Nase verdienten und der sichelförmige Grüngürtel um die Stadt mit seinen vielen alten Villen und Parks nahezu komplett verschwand.

Die Landschaftsarchitektin Lilli Licka erklärt, was der Donaupark in Wien oder der High Line Park in New York über die Gesellschaft aussagen.

Freiräume und urbane Entwicklung: Mit diesen Themen beschäftigt sich Lilli Licka schon seit vielen Jahren. Die Boku-Professorin für Landschaftsarchitektur ist außerdem Co-Betreiberin des Büros für lustige Angelegenheiten (BLA), das mit seinen provokativen Performances im Stadtraum durchaus ernste Sachen anspricht. Dabei klettert sie auch mal über Zäune und läuft als Sitzbank verkleidet durchs Museumsquartier. Licka ist Organisatorin der Konferenz für Landschaftsarchitektur X-Larch, die vergangene Woche in Wien stattfand, heuer unter dem Motto Park Politics.

Was hat ein Park mit Politik zu tun?

Licka: Es wird heutzutage viel über Freiraum, Beteiligung und Nutzungen diskutiert. Dabei geht es aber selten darum, wer wirklich die Entscheidungen trifft und wie der Freiraum am Ende aussieht. Kaum jemand weiß, dass die Stadt Wien ein Parkleitbild hat, in dem alles bis zur Hundeauslaufzone genau festgelegt ist. Wir wollen aufdecken, wer etwas zu sagen hat und steuert.

Parks als Spiegel der Gesellschaft also?

Licka: Der schwedische Landschaftsarchitekt Sven-Ingvar Andersson hat 1981 in seinem Buch "Parkpolitik" festgeschrieben, wie ein Park zu gestalten ist. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, wie die Gesellschaft auszusehen hat. Banales Beispiel: Wenn gewünscht ist, dass der Familienvater am Sonntag mit der Familie spazieren geht, muss der Weg breit genug sein. Bei Parks kommt noch dazu, dass hier die Beziehung von Mensch und Natur zum Ausdruck kommt. Es geht also auch um kulturelle Definitionen.

Er ist ein Realist, der träumt: der Architekt Yona Friedman über Utopien, seine Begegnungen mit Le Corbusier und die digitale Revolution

Kaum eine Skizze symbolisiert den Aufbruchsgeist der 50erund 60er-Jahre so wie die Ville Spatiale, ein federleichtes Raumgitter, über den Straßen des alten Paris schwebend, gefüllt mit bunten bewohnbaren Boxen. Sie wurde nie gebaut, gilt aber bis heute als eine der Ikonen der visionären Architektur. Erdacht hat sie der Architekt Yona Friedman, und zwar nicht als Zeichen der Gigantomanie, sondern als Selbstbau-Architektur für alle. Sein Manifest zur Mobilen Architektur war 1958 seiner Zeit weit voraus -Ideen, die den mittlerweile 95-Jährigen auch heute noch beschäftigen. Vorige Woche wurde ihm in Wien der mit 55.000 Euro dotierte Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst verliehen. Der Falter traf den unverbesserlichen Optimisten bei seinem Besuch zum Gespräch.

 

Herr Friedman, Sie sind seit 70 Jahren Architekt. Woran arbeiten Sie zurzeit?

Yona Friedman: Am Materiellen und am Immateriellen. Die Infrastruktur ist heute immateriell und mobil, und das eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Es ist viel einfacher, mit kleinen, billigen Dingen zu arbeiten und daraus etwas zu bauen. Ein Smartphone, ein Computer, ein Solarpaneel, ein System zum Sammeln von Regenwasser, das genügt schon! Die Mainstream-Architektur ist unverhältnismäßig teuer, das ist unnötig. Heute kann man ein ganzes Haus improvisieren, aus zehn Einzelteilen, von denen jedes nicht mehr als, sagen wir, 150 Euro kostet.

 

Sie haben ein iPad mit dabei. Wie es scheint, sind Sie ganz auf Seiten der digitalen Revolution?

Friedman: Absolut. Heute kann ein Analphabet mit einem Computer umgehen, der nicht mehr kostet als ein Haushaltsgegenstand. Das heißt für mich als Urbanisten, dass eine Stadt heute viel weniger harte, teure Infrastruktur braucht und sich vielmehr aus kleinen, billigen Dingen zusammensetzt. Das Zubehör zum Leben in Städten sollte nicht mehr kosten als ein Kühlschrank.

Eine Stadt und ihre Hochhäuser: Eine Geschichte von Liebe, Hass und Missverständnissen, offenen und verdeckten Interessen. Und vom Fehlen einer großen Idee.

Winterharter Riesenbambus. Die Felsenklippen von Acapulco. Der Müllkessel in der Spittelau. Was haben sie gemeinsam? Genau, sie sind alle 35 Meter hoch. Einen Zentimeter mehr, und sie wären in Wien ein Hochhaus. Denn alles, was höher als 35 Meter ist, gilt laut §7f der Wiener Bauordnung als ein solches. Einfach, oder? Bis hierhin schon. Alles, was danach folgt, ist in der Regel kompliziert.

Das ist es schon länger, denn die Geschichte von Wien und seinen Hochhäusern ist ein Stop-and-Go. Mal will Wien vertikal werden, dann sträubt es sich wieder mit aller Macht dagegen. Beides mit gutem Grund. Die Debatte um das Heumarkt-Projekt war nicht der erste und wird nicht der letzte Hochhaus-Streit sein. Er offenbarte tiefe Gräben und riss neue Gräben auf, die mitten durch Parteien, durch die Architektenschaft und die Öffentlichkeit gingen. Diesen erbitterten, im Moment still schwelenden, aber noch längst nicht abgeschlossenen Streit als Konflikt zwischen Bewahrern und Erneuerern zu sehen, greift zu kurz. Manche Bewahrer sind weniger konservativ als manche sogenannten Erneuerer, und über das, was bewahrt werden soll, gibt es mehr als zwei Meinungen.

Die 16. Architekturbiennale in Venedig bügelt der Architektur die Sorgenfalten aus. Das ist sehr schön anzuschauen, offenbart aber auch Lücken

Belgien stinkt. Man muss es so sagen. Ein paar Dutzend Schuhe stehen am Eingang, die Schuhbesitzer klettern in Socken auf europablauen Plastiktribünen umher. Der belgische Pavillon hat keine Fenster, Ende Mai hat es in Venedig schon am Vormittag 26 Grad. "Freespace" lautet das Motto der diesjährigen Architekturbiennale, und die Belgier haben es allzu simpel interpretiert: Den Raum einfach leer zu lassen, und zu hoffen, dass die Besucher dann schon irgendwie über Europa diskutieren würden, ergibt noch keine Idee. Weniger ist – Mies van der Rohes "less is more" zum Trotz – manchmal auch in der Architektur einfach nur weniger.

Doch solch simple Deutungen des Biennale-Mottos bleiben die Ausnahme. "Eine Großzügigkeit des Geistes, und ein Sinn für Menschlichkeit als Kern der Architektur, mit einem Fokus auf die Qualität des Raumes an sich", hatte das von den Biennale-Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects vorgegebene "Freespace Manifesto" angekündigt. Schon im Vorfeld wurde klar, dass bei der 16. Biennale ganz andere Töne angeschlagen werden als in den Jahren zuvor. 2014 hatte Rem Koolhaas unter dem Motto "Fundamentals" die Architektur gleichzeitig auf ihre Grundzutaten zurückgeführt und sie in grimmigem Realismus als hilflos und einflusslos gegenüber den globalen Entwicklungen entlarvt.

2016 rief der Chilene Alejandro Aravena kriegerisch zum "Reporting from the front" auf, und es wurde zu einer ähnlichen hermetischen Selbstbespiegelung der Profession, angereichert mit so viel Politik und Soziologie, dass man sich vor lauter Diagrammen und Krisengebietsfotos schon vorkam wie auf einem Amnesty-International-Kongress. Zwar war es überfällig, den Fokus auf Regionen abseits glitzernder Golfstaaten-Luxustürme zu richten, doch blieb unter dem Strich oft nur ein Bild von Architekten als leicht überforderten Feuerwehrmännern und -frauen. Es wurde viel Diskurs-Staub aufgewirbelt, Außenstehenden entlockte das aber nicht mehr als ein Achselzucken. Architektenprobleme interessieren eben vor allem: Architekten.

Michael Ludwig wird Michael Häupl als Bürgermeister nachfolgen. Doch welches Erbe hinterlässt er nach elf Jahren als Wohnbaustadtrat? Eine architektonische Bilanz

Als Michael Ludwig am 22. Jänner 2007 sein Amt als Wohnbaustadtrat antrat, war die Seestadt Aspern noch ein leeres Flugfeld, das Sonnwendviertel und das Nordbahnhofareal noch voller Gleise, die Finanzkrise ein noch unsichtbares Damoklesschwert, Gentrifizierung ein Fachbegriff für Urbanismus-Nerds und das Wohnen in Großstädten etwas ganz Normales für alle Einkommensgruppen.

Wenn Michael Ludwig am 24. Mai Michael Häupls Erbe antritt und nach 4139 Tagen sein bisheriges Amt an seinen noch unbekannten Nachfolger (oder Nachfolgerin) abgibt, ist Wien um rund 200.000 Einwohner und zehntausende Wohnungen gewachsen, drehen sich an allen Rändern der Stadt die Kräne, sind Finanzkrise und Gentrifizierung Standardbegriffe und Wohnen zum Luxusgut geworden.

Zeit für eine Bilanz und Standortbestimmung. Was hinterlässt der Chef eines der mächtigsten Ressorts der Wiener Stadtregierung, welche Aufgaben hat der nächste Wohnbaustadtrat zu lösen? Und welches Zeugnis stellen die Architekten Michael Ludwig aus?

Ein rastloser Reisender, ein Kommunikator mit Talent zum Überreden. Der Architekt Karl Schwanzer war ein intuitiver Ingenieur, der Technologie mit Lust an der Formgebung verband. Am 21. Mai wäre er 100 Jahre alt geworden

Bilder aus dem Wien der Nachkriegszeit: graubraune Fassaden und Blumenrabatten, steinerne Melancholie und Biederkeit. Dazwischen: Bilder von Schriftzügen aus Tokio, das Atomium in Brüssel, die Copacabana. Schnappschüsse von anderswo. Heute nichts Besonderes, damals müssen sie wie Postkarten aus einer fernen, aufregenderen Welt erschienen sein. Protagonist in beiden Bilderwelten: ein gedrungener Mann mittleren Alters, durchdringender Blick, mal im Anzug, mal lässig, immer mit Stil.

Erschienen sind diese Fotos jetzt dort, wo Fotos heute erscheinen: auf Instagram. Hier ist seit kurzem das private Archiv des Architekten Karl Schwanzer zu sehen, und es ist eine Fundgrube für Zeit- und Architekturgeschichte, ein Panoptikum der 1950er- bis 1970er-Jahre. Schwanzer, dessen Geburtstag sich am 21. Mai zum 100. Mal jährt, war schon früh ein Reisender. Mit 16 radelte er durch ganz Österreich, zur Matura nach Venedig. Ein Jahr nach dem Krieg saß er schon im eigenen Auto auf dem Weg nach Paris. Freischaffender Architekt. Der Beginn einer steilen Karriere, eines Arbeitslebens, das keine Pausen zu kennen schien. Als Assistent von Oswald Haerdtl an der Akademie für angewandte Kunst folgte er zunächst dessen sehr wienerischer "moderater Moderne". Doch so wie ihm das graubraune Wien bald zu klein war, wurde ihm auch das Korsett der gediegenen Interieurs zu eng. Die Moderne, die er anstrebte, war nicht moderat.

Das Architekturzentrum Wien rettet mit einer Schau die Ehre des Brutalismus der 1950er- bis 1970er-Jahre und liefert eine historische Einordnung. Mit dabei: bekannte und neu entdeckte Bauten aus Österreich

Sie werden geliebt und gehasst wie kaum eine andere Architekturgattung. Bauten aus der Zeit des Brutalismus von 1953 bis 1979 stehen für viele exemplarisch dafür, was sie an Architektur nicht mögen: die "Selbstverwirklichung" (was immer das sein mag), die Maßstabslosigkeit, die Menschenfeindlichkeit. Für manche sind sie in ihrer konsequenten Sichtbetonoptik schlicht und einfach hässlich.

Gleichzeitig hat diese Ära, die man jahrzehntelang nicht mit spitzen Fingern anfasste, in jüngster Zeit eine erstaunliche Wertschätzung erfahren. Nun wird jeder Stil nach etwa 40 Jahren aus Nostalgie, Neugier und Neutralität wiederentdeckt, und man kann die Uhr danach stellen, wann es bei der Postmoderne der 80er so weit sein wird. Vor allem aber sind brutalistische Bauten in ihrer fotogenen Ikonenhaftigkeit ideal für den schnellen Konsum auf Durchklick-Bilderhalden wie Instagram oder Tumblr. Sie springen einem mit mehr Wucht entgegen, als es eine Rasterfassade je könnte. Mal ähneln sie Maschinen, mal außerirdischen Wesen, evozieren archaische Tempel oder embryonale Höhlen. Rational und kühl sind sie selten.

Gegner beschimpfen sie als Monsterbauten und Betonklötze, aber dieses Vorurteil ist plumper als die Bauten selbst. Menschenfeindlichkeit ist materialunabhängig. Die globalen Guantanamos sind gesichtslos, die Türme der Profitmaximierung glasverspiegelt, der Neofeudalismus liebt den Naturstein. Weder das Glas noch der Stein noch der Beton können etwas dafür. Es kommt, wie der populäre Werbeslogan richtig sagt, darauf an, was man draus macht.

Der Munizipalismus erobert die Städte. Immer mehr Kommunen werden von den Bürgerplattformen regiert und vernetzen sich global. Während Nationen den autoritären Rückwärtsgang einlegen, schauen Städte voraus – und lassen sich keine Angst einjagen.

"Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens – Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren". Es war so ehrliche wie erstaunte Begeisterung, mit der George Orwell in seinem 1938 erschienenen Buch "Mein Katalonien" das kurzen Aufblühen eines pragmatischen Anarchismus während des Spanischen Bürgerkriegs schilderte.

Ein Hauch dieser Geschichte wehte, ganz unkriegerisch, am 13.6.2015 durch Barcelona. An diesem Tag wurde Ada Colau zur Bürgermeisterin gewählt. Calou kam ursprünglich von der „Plataforma de Afectados por la Hipoteca“ (PAH), die gegen Zwangs­räumungen infolge der Finanzkrise mobilisierte, die Spanien besonders schwer getroffen hatte. Unter dem Motto Change begins in the cities trat sie in Folge mit der gemeinsamen Plattform Barcelona en Comú für den Marsch in die Institutionen und eine Öffnung der Stadtpolitik für die Bürger an.

Ihr Wahlprogramm entwickelte die Plattform in unzähligen Gesprächen mit der Bevölkerung und den Asambleas, den nachbarschaftlichen Versammlungen in den Stadtbezirken. Ihre Wahl zur Bürgermeisterin machte damals weit über Barcelona hinaus Schlagzeilen. Eine Bürgerbewegung an der Macht – und die Geburt eines neuen Begriffs: Munizipalismus. Dessen Ziele: Solidarität statt Neoliberalismus, Kommunen, die sich am Gemeinwohl orientieren, und vor allem: sich nicht in Gegnerschaft und Protest einzuigeln, sondern selbst in die Verwaltung zu gehen.