über orte

Istanbul, Bahnhof Sirkeci, 1971.

Ein nicht ganz schlanker Mann Anfang 40 sitzt auf einem Prellbock. Er ist gerade aus dem Orient-Express gestiegen, er sieht furchtbar müde aus, er ist völlig erschöpft. Eine Fernsehkamera wartet auf Worte von ihm, aber ihm fallen keine ein. Er gehe jetzt einfach ins Bett, sagt er. Kurz darauf erleidet er einen Zusammenbruch. Sein Name ist Ian Nairn.

Rückblende – London, 1954.

Ein großer, schlanker Mann Anfang 20 klingelt an der Tür des Architectural Review. Er klingelt hier jeden Tag seit Wochen, er hat der renommierten Architekturzeitung Artikel geschickt und will sie publiziert sehen. Er ist kein Architekt und kein Journalist, er ist studierter Mathematiker und Pilot, er trägt noch seine Fliegerjacke der Royal Air Force. Er weiß, was er will. Irgendwann ist Chefredakteur Hastings des tägliche Geklingel leid und er gibt dem jungen Mann den Job. Kurz darauf publiziert dieser sein erstes aufsehenerregndes Buch mit dem Titel „OUTRAGE“, eine wütende Kampfansage an die gesichtslose Suburbanisierung seines Heimatlandes. Heute würde man es „Zersiedlung“ nennen, er erfindet dafür den Begriff Subtopia. Wenn dies so weiterginge, donnert er, dann: „The end of Southampton will look like the beginning of Carlisle; the parts in between will look like the end of Carlisle or the beginning of Southampton"Sein Name ist Ian Nairn.

Was tun, wenn sich der Sommer für einen Tag doch noch auf seine Kernkompetenzen besinnt, man sich soeben ein Midlife-Rennrad zugelegt hat, auf dem man nach etwas Übung  auch nicht mehr pedalbedingt vor versammelter Kreuzungspopulation seitlich umkippt? Man radelt Richtung Westen, ruft den aufgestauten Autofahrern am Altmannsdorfer Ast ein hämisch nelsonmuntz'sches "HAA-ha!" entgegen und verschwindet sohin im Wienerwald.

Zum 8. August alias Weltkatzentag: Nirgendwo sind Katzencafés so populär wie in Japan. Doch gerade haben die ausgelagerten Haustiere auch gefiederte Konkurrenz bekommen

Das Verhältnis des Japaners "an sich" zum Tier "an sich": eine komplizierte Sache. Wer sich in japanische Zoos wagt und trotz in trüber Brühe gestapelter Krokodile und minimal möblierter Mini-Terrarien ohne Depression wieder hinausgeht, hat wohl ein Herz aus trockenem Seetang. Vom Walfang wollen wir gar nicht erst anfangen. Andererseits erfreut sich das japanische Rindvieh - bevor es auf dem Grill landet - mitunter hingebungsvoller Biermassagen.

Am besten scheinen es die fiktiven Tiere zu haben, die großäugig von Postern, aus Schaufenstern und Mangas blinzeln. Nur ihnen gilt unsterbliche Liebe. Mehr als zwei Kategorien für die Tierwelt - "herzig" (kawaii!) oder "zum Essen" - braucht der Japaner offenbar nicht. Doch an und für sich wissen wir auch, dass es den Japaner "an sich" natürlich nicht gibt.

Privilegiert innerhalb der Kawaii-Fauna ist das Katzentier: Manch japanisches Auto quillt über vor Hello-Kitty-Schonbezügen, Hello-Kitty-Lenkradüberziehern und Hello-Kitty-Püppchen: alles sehr putzig. Yamato, der bekannteste Zustelldienst des Landes, hat als Logo eine Katze, die ein kleines Kätzchen im Maul trägt: sehr praktisch. Und Schilder, die vor dem Eingeklemmtwerden durch schließende Lifttüren warnen, zeigen in Japan natürlich eine weinende Katze mit verletztem Schwanz.

Tourismus: Drei Reisebücher, die keine Reiseführer sind, über Geschichte und Kunst des Unterwegsseins

Seit das Reisen nicht einfach Wegfahren bedeutet, sondern zu Tourismus und weiter zur Tourismusindustrie geworden ist, firmiert es als Lieblingsgegenstand von Forschung, Literatur und polemischer Kritik. Schon 1958 haute ihm Hans Magnus Enzensberger seine „Theorie des Tourismus“ um die Ohren: Romantik ohne Revolution, Ferne als Erlösung, die Sehenswürdigkeit als Befreiung vom schlechten Gewissen des Nichtstuns und der pikierte Dünkel der Pioniere über die nachfolgende Masse.
Daran hat sich nicht viel geändert. Allerdings hat, wie Enzensberger heute schreibt, im Easyjet-Zeitalter, in dem jeder Trafikant New York und Bali längst auswendig kennt, das Fernweh seinen Glanz verloren. Wie eine Wanderheuschrecke zieht der Mensch mit der Masse um die Welt.

Beide Enzensberger-Texte finden sich im Sammelband „Die Zukunft des Reisens“, herausgegeben von SZ-Feuilletonchef Thomas Steinfeld. Entstanden als Auftragsarbeit für den Schweizer Tourismuskonzern Kuoni, stellt er eine eigenartige Mischung aus Feuilleton und Marktforschung dar, eine Kombination, die dem Thema Tourismus wie angegossen passt.

Nebenan tobt Olympia, bei den Nachbarn in Ostlondon gilt: Ruhe bewahren. Eine Tour entlang der Rückseite der Spiele.

"Das hier", sagt Karen und deutet auf die graugrüne Wasserfläche, "war vor fünf Jahren noch eine Müllhalde, voller Autoreifen und Einkaufswägen." Wir sind beeindruckt. Das Wasser ist ein Arm des River Lea, und dort, wo er hundert Meter vor uns ums Eck verschwindet, sieht man die dürren Dreiecke des Olympiastadions aufragen. Die aschblonde Mittvierzigerin Karen ist unser Guide auf der Tour um den Olympic Park in Londons Osten. Der Altersdurchschnitt der Teilnehmer ist eher hoch, also hat Karen zum Start der zweistündigen Tour ihr "Have you made the most of the toilets?" mit Nachdruck wiederholt.

Jahrzehntelang war das malerische Castelfalfi leer und verlassen. Jetzt wurde es vom deutschen TUI-Konzern gekauft und zum Nobel-Resort veredelt - und mutet toskanischer an als die Toskana selbst.

Das typische Bild der Toskana könnte wohl jedes Kind im Schlaf aufzeichnen. Standard-Zubehör: Steinerne Städte auf grünen Hügeln, schlanke Zypressen, einsame Bauernhäuser, und das weltweit als unvergleichlich bekannte sanft goldene Licht. Man kennt das, und doch ist man erstaunt, dass die Toskana, wenn man sich in ihr befindet, tatsächlich exakt so aussieht wie aus Prospekten und Werbespots bekannt.

Auf einem Bergsporn über wogenden Feldern thronend, passt das Dorf Castelfalfi perfekt in dieses Bild: es duftet nach Rosmarin, es wuselt die Eidechse, aus dem Ginster lugen romantische Ruinen. Dass diese auch von Scheitern und Entbehrung künden, ist dabei leicht zu übersehen. Nachdem die örtliche Tabakfabrik in den 1960er Jahren zusperrte, wurde das Dorf bis auf ein paar Ferienhäuser verlassen, das Kastell stand leer, die Kirche zerfiel.

Zwischen römischer Strenge und den sanften Schwüngen des Jugendstils, zwischen kantigem Monumentalismus und erlesenen Stuckaturen: Die deutsch-italienische Rivalität im Bozen des frühen 20.Jahrhunderts wurde auch auf dem Feld der Architektur ausgefochten. Das Resultat ist eine einmalige und zugleich sehr europäische Mischung. Ein Stadtspaziergang von Ornament zu gerader Linie und zurück.

Burgen auf steilen Felsen, liebliche Weinberge und Obstplantagen, dramatische Gebirgszacken - die typischen Elemente der Südtiroler Landschaft. Mitten darin: Eine Hauptstadt, die dazugehört und doch völlig anders ist. Eingebettet, fast eingeklemmt in ein Tal, umrahmt von der theaterhaften Kulisse aus den besten und dramatischsten dieser alpinen Bestandteile, spielt Bozen auf dieser Bühne sein ganz eigenes Stück.

Als südlichste deutschsprachige und nördlichste italienischsprachige Stadt wurde sie am Anfang des 20. Jahrhunderts als wichtiger kultureller Außenposten von beiden Seiten besonders intensiv mit Bedeutung aufgeladen. Eine Säule war hier mehr als eine Säule, ein Ornament nicht nur reines Ornament - sie waren stolze Erklärungen von Zugehörigkeit. Weil Österreich Südtirol nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an Italien abtreten musste, erlebte Bozen binnen einer Generation gleich zwei Phasen des Aufbruchs, in denen die Architektur als Mittel der Eroberung eine Hauptrolle übernahm. So kann man wie in kaum einer anderen europäischen Stadt während eines einzigen gemütlichen Nachmittagsspaziergangs die filigranen Schwünge des Jugendstils, die fliegenden, scharfkantigen Linien der dynamischen Moderne und die schweren, einschüchternden Volumen des Monumentalismus erleben.

Alleine und hungrig in der fremden Stadt – die Menschheit kennt dieses Problem seit Urs Zeiten. Aber was soll man tun, immer wieder knallt einem das Leben Situationen vor den Latz, in denen Nahrungsaufnahme in unvertrauter urbaner Umgebung die Top-Priority ist.

Die Nobelshopallee Ginza ist am Sonntag für Fussgänger reserviert. Alle schweben wie auf Schienen über den sauberen schwarzen Asphalt. Wo Autos fahren dürfen, ist es genauso leise, denn die Autos schweben auch. An keinem Fahrzeug ein Staubkorn, auch Last- und Lieferwägen glänzen keimfrei. Aus den offenen Türen der Geschäfte dringt hochfrequenziger Begrüssungs-, Bedankungs- und Entschuldigungs-Singsang. Dazu an jeder Ampel melodisches Blindenleitgepinge. Kein Wunder, ist ja auch jeder, aber auch jeder Gehweg mit Blindennoppen und Blindenrillen ausgestattet. Durch diesen singenden und pingenden Teppich gleitet man, gefühlte 30 Zentimeter über dem Boden.

Schwefel und Schatten

Die Sakura, also Kirschblüte, ist hier gerade voll im Zenit, wie man dem Sakurawetterbericht im TV, der täglich die Position der Sakurafront verkündet, sowie der knallharten botanischen Realität entnommen hat. Ganze Kirschbaumschwärme besiedeln den Berghang zwischen dem quirligen Strandbeppu und dem permanent dampfenden Bergbeppu. In zunehmendem Halbtrance torkelt man durch weißgepixelte Psychedelik. Und natürlich durch Dampf.