Alpenchic

Zwischen römischer Strenge und den sanften Schwüngen des Jugendstils, zwischen kantigem Monumentalismus und erlesenen Stuckaturen: Die deutsch-italienische Rivalität im Bozen des frühen 20.Jahrhunderts wurde auch auf dem Feld der Architektur ausgefochten. Das Resultat ist eine einmalige und zugleich sehr europäische Mischung. Ein Stadtspaziergang von Ornament zu gerader Linie und zurück.

Burgen auf steilen Felsen, liebliche Weinberge und Obstplantagen, dramatische Gebirgszacken - die typischen Elemente der Südtiroler Landschaft. Mitten darin: Eine Hauptstadt, die dazugehört und doch völlig anders ist. Eingebettet, fast eingeklemmt in ein Tal, umrahmt von der theaterhaften Kulisse aus den besten und dramatischsten dieser alpinen Bestandteile, spielt Bozen auf dieser Bühne sein ganz eigenes Stück.

Als südlichste deutschsprachige und nördlichste italienischsprachige Stadt wurde sie am Anfang des 20. Jahrhunderts als wichtiger kultureller Außenposten von beiden Seiten besonders intensiv mit Bedeutung aufgeladen. Eine Säule war hier mehr als eine Säule, ein Ornament nicht nur reines Ornament - sie waren stolze Erklärungen von Zugehörigkeit. Weil Österreich Südtirol nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an Italien abtreten musste, erlebte Bozen binnen einer Generation gleich zwei Phasen des Aufbruchs, in denen die Architektur als Mittel der Eroberung eine Hauptrolle übernahm. So kann man wie in kaum einer anderen europäischen Stadt während eines einzigen gemütlichen Nachmittagsspaziergangs die filigranen Schwünge des Jugendstils, die fliegenden, scharfkantigen Linien der dynamischen Moderne und die schweren, einschüchternden Volumen des Monumentalismus erleben.

Die erste dieser Gründerzeiten nahm ihren Anfang 1859 mit der Eröffnung des Bahnhofs. Als acht Jahre später Züge auf der neuen Bahnstrecke über den Brenner rollten, begannen erstmals Touristen, die Stadt zu erkunden. Vor allem deutsche und österreichische Reisende suchten das sonnig-milde Klima. 1910 zählte man in Bozen bereits 120.000 Übernachtungen – bei nur 30.000 Einwohnern. Die Industrialisierung mit ihren zivilisierenden Nebeneffekten wie Strom, Gas, Licht und öffentlichem Verkehr tat ein Übriges für den steigenden Wohlstand.

Das Bozner Bürgertum machte sich nun daran, den neuen Reichtum in bauliche Form zu bringen. Die 27-jährige Ära des engagierten Bürgermeisters Julius Perathoner war von einer neuen selbstbewussten Generation geprägt, die damit begann, die Stadt zu erweitern und nach ihren Vorstellungen zu verschönern. Neben Wohnvierteln waren es vor allem sehr viele öffentliche Bauten, die im neuen Stil der Zeit entstanden. Einer der prominentesten war das neue Rathaus, das ab 1909 mit schlankem Turm, Arkaden und weit auskragendem Dach den Platz am östlichen Ende der “Lauben” dominierte, der seit der Gotik entstandenen Pracht- und Händlerstraße. Es war das geglückte Ergebnis einer Kooperation: Geplant wurde es vom Stadtbaumeister Wilhelm Kürschner, der Bozen mehr als jeder andere den Stempel der Belle Époque aufdrückte. Für die aufwendigen Details der prachtvollen Innenräume mit ihren neobarocken Stuckaturen wurde der Münchner Architekturprofessor Carl Hocheder mit ins Boot geholt. Im Ratssaal schuf der einheimische Maler Gottfried Hofer die Wandfresken und das Deckengemälde.

Genau am entgegengesetzten Ende der Lauben entstand zur gleichen Zeit mit dem 1905 errichteten Stadtmuseum ein zweiter Turmbau. Dessen Formensprache wiederum war deutlich teutonischer; ein Museum konnte in dieser historistischen Zeit schließlich nicht einfach ein Museum sein: Mit seinem zinnengekrönten Turm und den Rundbogenfenstern inmitten solider Steinmasse ist es eine Mischung aus Burg und Kloster - Zeichen einer gewollten geschichtlichen Kontinuität. Zeitgleich entstand um das Museum herum entlang der Sparkassenstraße ein ganzes Stadtviertel mit Wohnhäusern und Schule, das auch heute noch als einheitliches Ensemble erhalten ist. Mitfinanziert wurde es – nomen est omen - von der Sparkasse, die sich ihre Zentrale direkt gegenüber der Kunsthalle errichten ließ. Eine steinerne Bühne für die kraftstrotzenden Allianz aus Bürgertum und Wirtschaft.

Der dritte und letzte öffentliche Bau, der in dieser Epoche vor die Tore der Altstadt gesetzt wurde, sollte eben jene Bühne selbst sein: Das neue Stadttheater, zwischen Bahnhof und Waltherplatz am belebtesten Eingang zur Stadt platziert. Den Auftrag dazu erhielt 1913 der Münchner Max Littmann, deutschlandweit der Theaterspezialist unter den Stararchitekten der Gründerzeit. Die Baukosten von 650.000 Kronen wurden großteils von alteingesessenen Bozner Familien gespendet. Mit den grazilen Arkaden, die sich einladend zum Park öffneten, verlieh Littmann seinem südlichsten Bauwerk eine Leichtigkeit, die seine deutschen Theater in ihrer grundschweren Ästhetik nicht aufwiesen.

Ganz so sorglos und spielerisch wie gedacht sollte sich die Geschichte dieses Theaters allerdings nicht entwickeln: So war der mit den deutsch-italienischen Empfindlichkeiten nicht vertraute Littmann zunächst verwundert, als man ihm nahelegte, Kunststein zu verwenden, um lukrative Aufträge an die italienischen Steinmetze aus Trient zu verhindern. Die für Herbst 1914 geplante Eröffnung wurde durch den Kriegsausbruch verhindert - die zukunftsfrohen Zeiten des Wohlstands waren vorbei. Hatte Bürgermeister Perathoner bei seiner Antrittsrede 1895 noch betont, dass Bozen zwar eine deutsche Stadt sei und bleiben sollte, man aber mit den Mitbürgern italienischer Zunge in Frieden und Einvernehmen leben wolle, wurde Bozen nun von der kriegerischen Realität eingeholt. Die Italiener flogen Luftangriffe auf die Stadt, das halbfertige Theater diente als Lebensmittelmagazin. Als es 1918, noch im Krieg, endlich eingeweiht wurde, kündigte sich bereits ein neues Bozen an.

Dieses entstand, wie eine spiegelbildliche Gegenwelt, am anderen Ufer der Talfer. Nach Mussolinis Marsch auf Rom 1922 führte die planmäßige Italianisierung Südtirols zu einer Ansiedlung Tausender neuer Bürger. Die Italiener sollten zur Mehrheit werden, und ihr Bolzano größer, städtischer und mediterraner als das bisherige Bozen. Seine Architekten kamen nicht mehr aus München oder Wien, sondern aus Rom. Burgen als Stilvorbilder waren passé, jetzt ging es mit Hochgeschwindigkeit gleichzeitig vorwärts in die Zukunft und zurück in die Antike.

Dies wurde bald jedem, der das neue Stadtviertel jenseits der Talfer betrat, unmissverständlich klargemacht: Die 1931 eröffnete Drususbrücke hatte man nach dem römischen Feldherren benannt, der im Jahre 15 vor Christus die Gegend um Bozen erobert hatte. Als sei das noch nicht der Symbole genug, wurde der Bau noch dazu mit (inzwischen entfernten) römischen Herrschaftsemblemen wie Schildern und Schwertern, Liktorenbündeln und Sockeln mit gewaltigen steinernen Adlern bestückt.

Am westlichen Brückenkopf bot die gleiche Ideologie dann ein völlig anderes Erscheinungsbild: Pompejanisch-Rot leuchtet ein schnörkelloses Ensemble aus liegenden Quadern, schlankem Turm und einem flachen Zylinder. Dynamische, schmale Fensterbänder sausen weiß umrahmt darum. Es ist das moderne Gesicht des Mussolini-Staates, passenderweise errichtet für dessen Jugendorganisation „Gioventù Italiana del Littorio“ (GIL) von den Architekten Francesco Mansutti und Giuseppe Miozzo, eine herausfordernde Geste an das alte deutsche Bozen auf der anderen Seite des Flusses.

Monumentalität und Razionalismo existierten eben in den ersten Jahren unter Mussolini trotz mancher Widersprüche in einem trauten Nebeneinander. Das beweist auch ein weiteres Beispiel nur wenige Meter entfernt: Das Freibad Lido, 1932 von Ettore Sottsass senior als langgestreckter L-förmiger Bau mit großzügig verglastem Panorama-Restaurant, Sonnenterrassen und schwungvollen Wendeltreppen entworfen, zeichnete ein Bild des Sports als geselligem Freizeitspaß voller Freude an der Bewegung. Das direkt nebenan liegende Drusus-Stadion mit seinem trutzigen, tonnenschweren Portalbau lässt dagegen mehr an grimmige Gladiatorenkämpfe denken.

Wer glaubt, noch römischer, noch wuchtiger gehe es nicht, wird nach einem kurzen Spaziergang eines Besseren belehrt: Dazu folgt man vom Drususstadion aus der idyllischen Viale Venezia nach Norden. Die Alleehäuser wirken wie über Jahrhunderte gewachsen, doch wurden ihre vielfältigen Erker, Loggien und Balkone aus einem Süditalien-Baukasten zusammengestellt und 1928 als Komplett-Paket errichtet. Schließlich landet man auf der weniger idyllischen Piazza Vittoria und steht vor einem waschechten römischen Triumphbogen – allerdings aus der Neuzeit. Das von Marcello Piacentini (sozusagen Mussolinis Albert Speer) entworfene Siegesdenkmal mit seinen 14 Säulen und der eroberungstrunkenen Inschrift „Hic patriae fines siste signa. Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus.“ (Hier sind die Grenzen des Vaterlandes, setze die Zeichen. Von hier aus lehrten wir die Anderen  Sprache, Gesetze und Künste) zelebriert den Sieg der Italiener nach dem Ersten Weltkrieg und wurde 1928 von König Vittorio Emanuele III. feierlich enthüllt. Mit voller Absicht wurde das marmorne Monument genau in die Achse der alten Talferbrücke gesetzt. Die Piazza Vittoria bekam eine Einfassung aus nach vorne schmucklosen und abweisenden Wohnblocks, hinter denen sich allerdings erstaunlich grüne und fröhliche Innenhöfe verbergen. Auf der anderen Seite des Platzes setzt sich die Achse mit der Via Libertà fort. Die Einkaufs- und vor allem Prachtstraße des neuen Bolzano führt mit hohen Arkaden, gesäumt von bis zu achtgeschossigen Bauten, schnurgerade noch Westen, um dort urplötzlich abzubrechen und übergangslos auf den Dorfplatz des lieblich-beschaulichen Stadtteils Gries zu münden.

Die letzte große Anlage dieser Zeit war auch ihre konsequent kolossalste: das Gegenüber von Justiz- und Parteigebäude - die Fassade des einen konkav, die des anderen konvex -, zwischen denen sich die die stille, förmliche Leere des Gerichtsplatzes  erstreckt. Als die Bauten 1942 fertiggestellt wurden, war der Razionalismo in Italien bereits verboten, es galt das strenge formelle Diktat von Travertin und Ziegel für alle Schauseiten. Während sich das Justizgebäude mit seiner hohen Säulenfront als reservierter, fast abstrakter Repräsentationsbau darstellt, besteht das niedrigere Parteigebäude (das heutige Finanzamt) fast nur aus Fassade. Doch was für eine! Über den drei niedrigen Durchgängen in den Innenhof prangt ein 35 Meter langer Fries. Gekrönt von dem Kampfspruch „credere, obbedire, combattere“ (glauben, gehorchen, kämpfen) verewigte der einheimische Bildhauer Hans Piffrader die Ruhmestaten des Duce und seines Regimes. Über den Erhalt des Reliefs wird bis heute debattiert.

Spaziert der Besucher dann über die Talferbrücke wieder zurück zum 1929 von Angiolo Mazzoni nachträglich monumentalisierten Bahnhof, vereinen sich vor der grandiosen Theaterkulisse der Bergwelt die beiden Stadthälften - hier klein-, dort großstädtisch, hier alpin, dort mediterran, hier spielerisch und ornamental, dort streng und geradlinig - wieder zu einem Gesamt-Bozen. Und dieses Bozen bewegt und entwickelt sich ständig: Wenn auf dem Industriegelände hinter dem Bahnhof wie geplant ein neuer, dritter Stadtteil entstehen wird, werden sich bald auch Elemente des 21. Jahrhunderts in das Formenspiel der Stadt mischen. Und mit dem Museion, diesem lichten Museum für zeitgenössische Kunst, dessen Brücken so rasant den Fluss überspannen, gibt es bereits eine Stilikone der Jetztzeit. Willkommen in der neuen Moderne!

(erschienen in: "Lebensart: Das Südtirol Magazin", als Beilage der ZEIT, 1.3.2012)