Die 16. Architekturbiennale in Venedig bügelt der Architektur die Sorgenfalten aus. Das ist sehr schön anzuschauen, offenbart aber auch Lücken
Belgien stinkt. Man muss es so sagen. Ein paar Dutzend Schuhe stehen am Eingang, die Schuhbesitzer klettern in Socken auf europablauen Plastiktribünen umher. Der belgische Pavillon hat keine Fenster, Ende Mai hat es in Venedig schon am Vormittag 26 Grad. "Freespace" lautet das Motto der diesjährigen Architekturbiennale, und die Belgier haben es allzu simpel interpretiert: Den Raum einfach leer zu lassen, und zu hoffen, dass die Besucher dann schon irgendwie über Europa diskutieren würden, ergibt noch keine Idee. Weniger ist – Mies van der Rohes "less is more" zum Trotz – manchmal auch in der Architektur einfach nur weniger.
Doch solch simple Deutungen des Biennale-Mottos bleiben die Ausnahme. "Eine Großzügigkeit des Geistes, und ein Sinn für Menschlichkeit als Kern der Architektur, mit einem Fokus auf die Qualität des Raumes an sich", hatte das von den Biennale-Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara vom irischen Büro Grafton Architects vorgegebene "Freespace Manifesto" angekündigt. Schon im Vorfeld wurde klar, dass bei der 16. Biennale ganz andere Töne angeschlagen werden als in den Jahren zuvor. 2014 hatte Rem Koolhaas unter dem Motto "Fundamentals" die Architektur gleichzeitig auf ihre Grundzutaten zurückgeführt und sie in grimmigem Realismus als hilflos und einflusslos gegenüber den globalen Entwicklungen entlarvt.
2016 rief der Chilene Alejandro Aravena kriegerisch zum "Reporting from the front" auf, und es wurde zu einer ähnlichen hermetischen Selbstbespiegelung der Profession, angereichert mit so viel Politik und Soziologie, dass man sich vor lauter Diagrammen und Krisengebietsfotos schon vorkam wie auf einem Amnesty-International-Kongress. Zwar war es überfällig, den Fokus auf Regionen abseits glitzernder Golfstaaten-Luxustürme zu richten, doch blieb unter dem Strich oft nur ein Bild von Architekten als leicht überforderten Feuerwehrmännern und -frauen. Es wurde viel Diskurs-Staub aufgewirbelt, Außenstehenden entlockte das aber nicht mehr als ein Achselzucken. Architektenprobleme interessieren eben vor allem: Architekten.
2018 ist alles anders. Die Probleme sind zwar nicht verschwunden, aber sie treten in den Hintergrund. Nicht nur die Ausstellungsräume in den Giardini und im Arsenale wirken dank feinfühliger Eingriffe der beiden Grafton-Architektinnen luftiger und aufgeräumter, auch die ausgestellte Architektur lässt aufatmen. Die Fliesen des Londoner Kollektivs Assemble, die auf riesigen Fotos präsentierten surrealen Umbauten der Belgier De Vylder Vinck Tailleu oder die zum Seufzen schönen Details eines wiederentdeckten Wohnblocks in Mailand machen klar: Man darf an der Architektur wieder pure Freude haben.
Denn für ein Manifest, das den Freiraum im Namen trägt, prunkt die Biennale mit erstaunlich viel Masse. Die digitalen und abstrakten Welten der letzten Jahre sind Objekten gewichen, die berührt und benutzt werden wollen. Es sind Ausstellungsstücke, die wie kleine Kunstwerke anmuten und die Grenze zum Materialfetischismus bisweilen überscheiten. Das häufigste Adjektiv, das man in den Eröffnungstagen hörte, war das in Architektenkreisen sonst verpönte "schön". Die Grafton-Biennale, das ist eindeutig, ist keine "Problem-Biennale".
Es ist eine Biennale, die endlich wieder auch für Nichtarchitekten interessant ist, ohne dass die Relevanz vor lauter Harmonie über Bord geworfen wird. Denn die politische Dimension der Architektur ist keineswegs verschwunden, sie kommt nur in anmutigem Kleid daher.
Ägypten analysierte die Räume der mal vertriebenen, mal geduldeten Straßenhändler in Kairo, die Niederlande untersuchten in einer Rauminstallation aus orangefarbenen Umkleide-Schließfächern die Zukunft der Arbeit, eine der inhaltlich und konzeptionell besten Arbeiten. Tschechien überzeugte trotz minimalen Budgets mit einer charmanten, eher in der Kunst angesiedelten Performance, die "normales Leben" in durch Tourismus zu Freilichtmuseen verkommene Orte zurückzubringen will: Stricken auf den Straßen von Český Krumlov. Das ist auch eine Botschaft an das fast zu Tode musealisierte Venedig. Israels konzentrierte Abhandlung von heiligen Orten in Jerusalem schaffte es, eine komplexe Historie auf kompliziertem Territorium gut lesbar aufzubereiten.
Deutschland scheiterte genau daran. Mit dem Motto "unbuilding walls" hatte sich das Kuratorenteam aus der Politikerin Marianne Birthler und dem Berliner Architektentrio Graft zwar an das zeitgemäße Thema der Mauern und Grenzen herangewagt. Doch die 28 an Segmente der Berliner Mauer erinnernden Ausstellungswände thematisieren die Nutzungen entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs in ermüdender Ausführlichkeit, die kaum Erkenntnisgewinn bringt.
Hier wurde alles vom baltischen Radweg über den Potsdamer Platz bis zum Berliner Technoclub in braver Fleißarbeit zusammengetragen, als hätte man schnell ein paar Wikipedia-Seiten ausgedruckt und mit grotesk unpassender Technoflyer-Typografie garniert. Eine verpasste Chance, das Thema mit fokussierter Dringlichkeit anzugehen.
Völlig zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde der Pavillon der Schweiz, ein M.C.-Escher-artiges Labyrinth aus helvetisch-ordentlichen Wohnräumen (weiße Wände, Parkettböden), die aber in Größe und Perspektive verzerrt sind. Türen für Riesen, Fenster für Zwerge. Es wäre nicht die Schweiz, wenn das nicht bis zur Steckdose und zum Türgriff in perfekter Detailarbeit durchrealisiert wäre. Die Besucher strahlen und hüpfen wie spielende Kinder zwischen riesigen Küchenkästen und winzigen Fenstern herum. Ein cleverer Blick auf übersehene Alltagsarchitektur und ein Auf-die-Schippe-Nehmen des gut abgehangenen fotogenen Purismus, in dem solche Räume gerne dargestellt werden.
Und Österreich? Österreich legte heuer den Fokus auf Schönheit und den Raum an sich. Damit liegt es ganz auf der Linie der Kuratorinnen. Unter dem Motto "Thoughts Form Matter" hat Kommissärin Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstitus (vai) in Dornbirn, drei Teams ausgewählt -die Architekten LAAC und Henke Schreieck sowie die Designer Sagmeister Walsh. Als dies letzten Herbst bekanntgegeben wurde, befürchteten viele schon einen weiteren österreichischen Kompromiss des Zusammenpferchens, wie man ihn bei den letzten Architekturbiennalen und auch bei der Kunstbiennale 2017 mit Erwin Wurm und Brigitte Kowanz erlebt hatte.
Ist es auch 2018 eine solch forcierte Zweckgemeinschaft geworden? Ja und nein. Es ist Verena Konrad anzurechnen, dass sie sich nicht mit einer Zuweisung von Ausstellungsbereichen an die Teams und einem "Macht halt irgendwas!" begnügt hat. Stattdessen wurden die Teilnehmer in einer Art Versuchsanordnung im geschützten Labor zur Kooperation gezwungen. "Freespace verstehe ich als kontextuelles Arbeiten, als Koexistenz dreier Positionen, die kommunizieren müssen und damit Baukultur abbilden", erklärt Verena Konrad ihr Konzept.
Kathrin Aste und Frank Ludin vom Büro LAAC aus Innsbruck, die 2011 den dortigen Landhausplatz in eine wogende Landschaft aus hellem Beton verwandelten und zurzeit die Copa Cagrana in Wien konzeptionell verlandschaftlichen, bereiten dabei den Boden für die anderen Teams.
Sie fügen dem von Josef Hoffmann geplanten Pavillon eine gekrümmte Spiegelfläche ein, die sie als oberstes Segment einer imaginierten Kugel verstehen, die im Maßstab 1:50.000 zur Erde steht. "Wir wollen den absoluten, symmetrischen Raum des Pavillons zum relationalen Raum machen", erklärt Aste. "Im geschützten Kontext der Biennale kann man zwar keinen öffentlichen Raum herstellen, aber man kann die Idee davon vermitteln."
Das Erkennen dieser Idee verlangt den Besucherinnen und Besuchern zwar einiges an Abstraktionsleistung ab, doch das Spazieren auf der Spiegelkugel führt ganz unmittelbar zu sehr körperlichen und sehr venezianischen Gleichgewichtsirritationen, als wäre man gerade einem auf Canal-Grande-Wellen schwankenden Vaporetto entstiegen. Der Beitrag vom Büro LAAC ist nicht die einzige Spiegelfläche dieser Biennale, und wie die anderen erwies sich diese schon in den ersten Tagen als Instagram-Selfie-Hit, wenn auch die Teilnehmer der Pressekonferenz durch die Doppelbelastung mit direkter und gespiegelter Sonne ins Schwitzen kamen.
Raumkonzepte, die sich ohne Textwüsten und Gebrauchsanweisungen erklären, verfolgen auch Dieter Henke und Martha Schreieck mit ihrer Installation, die im Inneren des Pavillons auf der LAAC-Spiegelfläche steht. Balken aus römischer Eiche, dank Südtiroler Handwerkskunst formschön verarbeitet, bilden ein Gerüst, auf dem man bis zu den Lichtbändern unter der Decke des Pavillons emporsteigen kann, um auf der anderen Seite in einen Wald aus japanischem Papier, das von der Künstlerin Anna Rubin von Hand zusammengenäht wurde, einzutauchen.
Es ist ein Feiern des Materials, des Objekts, des guten Handwerks, die der diesjährigen Tendenz entspricht. "Die Installation ist auch ein Signal gegen das rein Funktional-Ökonomische", sagt Martha Schreieck. "Wir versuchen immer, Räume zu schaffen, die über das Programm hinausgehen. Deren Notwendigkeit muss man immer wieder argumentieren."
Doch stellt das schöne Objekt nur sich selbst dar oder weist es -wie es den Schweizern gelang -über sich und die Biennale hinaus? Dass hier ein öffentlicher Raum im Inneren simuliert wird, wie ihn Henke Schreieck bei ihrem Erste Campus in Wien erfolgreich realisiert haben, dürfte sich Besuchern, die mit dem Werk der Architekten nicht vertraut sind, kaum erschließen.
In der Versuchsanordnung spiegelt sich ein Kernproblem, das die Architektur auch in der "realen Welt" außerhalb der Biennale hat. Sie muss sich durch sich selbst erklären und ihren Wert vermitteln. Ohne ergänzende Information ist die schönste Rauminstallation für die Besucher eben nur das: eine schöne Rauminstallation.
Keine Fragen offen lässt hingegen der Beitrag von Stefan Sagmeister und Jessica Walsh, der in den abgetrennten Räumen in den hinteren Flügeln gezeigt wird: zwei Deckenprojektionen, auf denen in grellen Farben die Worte "BEAUTY" und "FUNC-TION" in slick-perfekten Animationen dekonstruiert werden. Um es noch deutlicher zu machen, ist im Hof zwischen diesen beiden Projektionsräumen ein "="-Zeichen aufgemalt. "Schönheit ist für uns Teil der Funktion, im Design genauso wie in der Architektur", sagt Stefan Sagmeister. Das ist in seiner digitalen Opulenz in der Tat schön anzuschauen, aber inhaltlich eine allzu simple Arithmetik.
Manchmal genügt die reine Schönheit eben nicht, sondern braucht einen Kontext. Denn der kleine Pavillon taugt nicht als vollwertiges Modell für die Welt vor den Biennale-Mauern.
Vielleicht hilft es, wenn sich die Architekten die Kunstbiennale 2019 genau anschauen. Denn diese darf für Österreich Renate Bertlmann alleine bespielen. Eine Pause vom Kompromiss und von der Gruppenarbeit, so gut sie auch sein mag, würde auch den Architekten guttun.