Du bist die Stadt: Die Manifesta 12 in Palermo

Die Manifesta 12 in Palermo bündelt die globale Kunst und den lokalen Stolz zu einem überzeugenden Statement für ein offenes Mittelmeer.

Palermo, vormittags, 11.30 Uhr. Euphorischer Jubel. Vier Knaller aus vier Kanonen, aus vier Ecken rieseln tausende bunte Papierstreifen auf die Menschenmenge, die sich auf der Quattro Canti versammelt hat, dort, wo sich die zwei Hauptachsen der Stadt kreuzen. An den vier barocken Eckbauten, direkt unter den Steinfiguren spanischer Könige, hängen ebenso bunte Stoffbanner, bestickt mit Figuren.

Farbkanonen und Textil sind Teil einer Performance der Künstlerin Matilde Cassani für die Manifesta 12, die an diesem Tag in Palermo eröffnet wird. Sie kreuzte dafür zwei Grundelemente der palermischen Identität: die jährliche katholische Prozession der Santa Rosalia und die kulturelle Mischung der Stadt. Die Motive der Textilien erarbeitete sie gemeinsam mit der tamilischen Community.

Ippolito Pestellini Laparelli ist in der Menge leicht auszumachen, er überragt die Köpfe seiner Landsleute deutlich. Der in Palermo geborene Architekt arbeitet in Rem Koolhaas' Rotterdamer Büro Office for Metropolitan Architecture (OMA) und ist einer der "creative mediators" der Manifesta. Drei Jahre lang arbeiteten Laparelli und das Team von OMA an der Erstellung des "Palermo Atlas", einer Bestandsaufnahme seiner Heimatstadt. "Wir haben dafür intensiv mit den Bürgern zusammengearbeitet", erzählt Laparelli, "wir haben sie Geschichten erzählen lassen." Vor allem aber wurde in der für OMA typischen Datensammelwut die Position Palermos in Zeit und Raum kartiert. Alle unvollendeten und leerstehenden Gebäude, alle Filme, in denen Palermo eine Hauptrolle spielt, und eine Abhandlung über die sogenannte Plünderung von Palermo, die wilde und explosive Stadterweiterung der 1950er- bis 1970er-Jahre, als sich die Männerbünde aus Mafia, Politik und Kirche eine goldene Nase verdienten und der sichelförmige Grüngürtel um die Stadt mit seinen vielen alten Villen und Parks nahezu komplett verschwand.

Ein Atlas als Grundlagenforschung und Statement: Die Manifesta soll nicht wie so viele Festivals als Ufo in einer gerade angesagten Stadt landen und wieder abschwirren, ohne Spuren zu hinterlassen. Präzise niederländische Vorbereitung und italienisches Improvisationstalent fanden schon am ersten Tag zusammen, als die Pressekonferenz aus Witterungsgründen in eine der praktischerweise zahlreich vorhandenen Kirchen verlegt wurde. Die ornamentale Bombastik der Chiesa Santa Caterina bildete einen reizvollen katholischen Kontrast zur protestantischen Strenge der Manifesta-Gründerin und -Direktorin Hedwig Fijen. "Die Stadt selbst ist die Biennale. Die Biennale funktioniert nur, wenn sie radikal lokal ist", verkündete die Kunsthistorikerin, um gleich darauf den weltpolitischen Rahmen aufzuspannen: "Die Manifesta startete in den 1990er-Jahren, als die Grenzen sich auflösten. Heute sehen wir weltweit das Gegenteil. Palermo ist der ideale Ort, um die veränderte DNA Europas zu untersuchen."

Dazu versammelt das Festival 50 Künstler an 20 Orten, darunter sind 35 eigens für die Manifesta beauftragte Werke. Kein Sammelsurium, sondern eine Bündelung von aufs Hier und Jetzt fokussierten Statements. Das in der Mitte des Mittelmeers, am kulturellen Schnittpunkt von Europa, Afrika und dem arabischen Raum, verorte Palermo ist dafür in der Tat die bestmögliche Bühne und das Jahr 2018 der bestmögliche Moment. Denn in Zeiten, da das Mittelmeer vom offenen Kulturraum zur tödlichen Grenzregion wird, bezieht die Stadt offensive Gegenposition. Schon 2015 hatte Bürgermeister Leoluca Orlando in seiner "Charta von Palermo" das Recht auf unbegrenzte Mobilität für alle gefordert. "Wenn man mich fragt, wie viele Migranten wir in Palermo haben, sage ich: Keinen einzigen. Ich unterscheide nicht zwischen denen, die hier leben, und denen, die hier geboren sind. Wer in Palermo ist, ist Palermer", so der kämpferische Bürgermeister. Eine Breitseite gegen Frontex, ein willkommener Mittelfinger gegen die wiederauferstandene Illusion eines monokulturellen Purismus. All das in einer Stadt, deren Kathedrale eine prachtvolle Synthese von islamischer und christlicher Architektur ist.

Schön und gut, könnte man jetzt sagen, aber politische Kunst, das klingt nach simplen One-Linern mit geringer Halbwertzeit. Doch bis auf wenige Ausnahmen gelingt der Spagat zwischen dem Lokalen und Globalen, denn die Entdeckung der Kunst deckt sich mit der architektonischen Entdeckungsreise durch Palermo. Zahlreiche Bauten wurden – mit erheblichem bürokratischem Verhandlungsgeschick – erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das atemberaubende Staatsarchiv, wie aus einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges entsprungen. Die in permanentem Baustellenzustand verharrenden Palazzi Ajuntamicristo, Costantino und Forcella di Seca, drei von über 1000 leerstehenden Gebäuden der Stadt. In der darin gezeigten Themensektion "Out of Control Room" ist etwa der irische, in Wien ansässige Künstler John Gerrard mit seiner hyperrealistischen Rekonstruktion amerikanischer Serverfarmen zu sehen, das deutsche Peng! Collective mit seiner provokativen Fluchthelferkampagne, oder eine Dokumentation der (vergeblichen) Proteste gegen die 2016 erfolgte Errichtung der militärischen Bodenstation des Satellitensystems MUOS der USA im Südosten Siziliens.

Poetischer die Sektion "Garden of Flows", die das Motto der Manifesta "The Planetary Garden: Cultivating Coexistence" mit Bedeutung erfüllt. Die Gruppe Cooking Sections entwickelte in Kooperation mit der Universität Palermo Bewässerungsmethoden für die Landwirtschaft, und demonstriert sie im öffentlichen Raum: Gelbe Netze werden über die Orangenbäume im Giardino dei Giusti drapiert, vertäut an den Balkonen der Bewohner des benachbarten Wohnblocks, am Geländer direkt neben der Hello-Kitty-Bettwäsche. Niedrigschwelliger kann Kunst wohl kaum stattfinden. Die Sektion "City on Stage" macht schließlich die Stadt selbst zum Thema. Ein Workshop im weit nördlich gelegenen Problemviertel Z.E.N.2 holte die Ärmsten einer ohnehin armen Region ins Boot, und die Gruppe Rotor machte die mafiösen Bauruinen im Naturschutzgebiet des Pizzo Sella erstmals öffentlich zugänglich. Eine Verortung der Kunst und Architektur in der Stadt. Ein Manifest, das sich in der Stadt manifestiert.

Palermo, abends, 11.30 Uhr. Die von Halbruinen gesäumte Piazza Garraffello wird zum Hexenkessel aus improvisierten Straßenküchen. Eine Vitalität, aus dem Kampf ums Überleben gespeist. An einer der jahrhundertealten Mauern prangt ein Graffito: Tu sei la città. Du bist die Stadt.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 23./24.06.2018