Der Maschinist tritt ab

Michael Ludwig wird Michael Häupl als Bürgermeister nachfolgen. Doch welches Erbe hinterlässt er nach elf Jahren als Wohnbaustadtrat? Eine architektonische Bilanz

Als Michael Ludwig am 22. Jänner 2007 sein Amt als Wohnbaustadtrat antrat, war die Seestadt Aspern noch ein leeres Flugfeld, das Sonnwendviertel und das Nordbahnhofareal noch voller Gleise, die Finanzkrise ein noch unsichtbares Damoklesschwert, Gentrifizierung ein Fachbegriff für Urbanismus-Nerds und das Wohnen in Großstädten etwas ganz Normales für alle Einkommensgruppen.

Wenn Michael Ludwig am 24. Mai Michael Häupls Erbe antritt und nach 4139 Tagen sein bisheriges Amt an seinen noch unbekannten Nachfolger (oder Nachfolgerin) abgibt, ist Wien um rund 200.000 Einwohner und zehntausende Wohnungen gewachsen, drehen sich an allen Rändern der Stadt die Kräne, sind Finanzkrise und Gentrifizierung Standardbegriffe und Wohnen zum Luxusgut geworden.

Zeit für eine Bilanz und Standortbestimmung. Was hinterlässt der Chef eines der mächtigsten Ressorts der Wiener Stadtregierung, welche Aufgaben hat der nächste Wohnbaustadtrat zu lösen? Und welches Zeugnis stellen die Architekten Michael Ludwig aus?

Hört man sich in der Architektenschaft um, ist die Resonanz tendenziell positiv, schließlich gab es genug zu tun in den vergangenen Jahren. „Als Michael Ludwig das Wohnbauressort übernahm, wurde er Chef einer gut geölten Maschine“, meint der Architekturforscher und Wohnbauexperte Robert Temel. „Die 1995 von Hannes Swoboda und Werner Faymann eingeführten Bauträgerwettbewerbe sind ein verlässliches Instrument, um Wohnbaugrundstücke im städtischen Besitz fair zu vergeben und zu entscheiden, welches Projekt Wohnbauförderung erhalten soll.“

Sprich: Die Jury beurteilt die gemeinsam eingereichten Projekte nach den Kriterien Architektur, Wirtschaftlichkeit und Ökologie und seit 2009 auch – die „vierte Säule“ des geförderten Wohnbaus – soziale Nachhaltigkeit, das heißt soziale Durchmischung, Integration und Mieterbeteiligung. Wie in Harry Glücks legendärem Wohnpark Alt-Erlaa soll die Direktorin neben dem Arbeiter wohnen. Das funktioniert einmal mehr, einmal weniger, aber im Großen und Ganzen erfolgreich, denn im Unterschied zu vielen anderen europäischen Metropolen hat Wien keine Ghettos, keine Banlieues.

Das Konglomerat aus Stadt, Wohnfonds, Bauträgern und Architekten und reichlich Spatenstich-PR ist in der Tat eine gut geölte Wohnbaumaschine – mit dem Stadtrat als Maschinist. Der nicht nachlassende Druck auf die Wohnbauproduktion der kontinuierlich wachsenden Stadt fordert dieser Maschine aber immer mehr Leistung und mehr Ideen ab. Wenn es ein Kontinuum in der Amtszeit des Wohnbaustadtrats gibt, waren es die jährlichen Pressemeldungen „Ludwig kündigt mehr Wohnungen pro Jahr an“. Der Maschinist versprach anzuheizen.

Leichter ist das nicht geworden. Nach der Finanzkrise startete Ludwig 2011 die Wohnbauinitiative als zweite Hochgeschwindigkeitsstrecke neben dem geförderten Wohnbau. Die Wohnbauförderung lag damals im Tief, also nahm die Stadt Geld auf und reichte es zu günstigen Konditionen an die Bauträger weiter. Inzwischen sind viele Bauten dieser Initiative fertiggestellt, unter anderem in der Seestadt Aspern. „Während zuvor die Zielrichtung der Wohnbauförderung in Richtung Mittelschicht gewandert war, wurde das Spektrum nun zu den niedrigen Einkommen hin erweitert“, diagnostiziert Robert Temel.

Denn über kaum etwas wurde in den letzten Jahren im Wohnbau so diskutiert wie über die Leistbarkeit. Für die steigende Zahl an Alleinerziehenden war die klassisch geförderte Wohnung oft kaum zu bezahlen. Als Angebot dafür wurden unter Michael Ludwig 2012 die Smart-Wohnungen erfunden, mit kleineren Grundrissen und Mieten auf niedrigem Gemeindebauniveau. Der erste Smart-Wohnbau steht schon im Sonnwendviertel, rund 3000 weitere sind in Bau oder geplant. Architekten waren und sind nicht immer glücklich mit dieser Schrumpfvariante, doch viele sehen sie als Herausforderung, neue Grundrisstypen zu entwickeln.

Dabei ist es keineswegs so, dass Architekten in der Ära Ludwig nur zum Entwerfen auf Sparflamme verdonnert wurden. An Highlights fehlt es nicht. Die neu hinzugekommenen Baugruppen wie das mehrfach preisgekrönte Wohnprojekt Wien am Nordbahnhof (Einszueins Architekten) sorgten für frischen Wind, in der Seestadt Aspern wurde ein Experimentierfeld für Holzbau und Energiesparmodelle eröffnet, die Harry-Glück’schen Swimmingpools am Dach feierten eine Renaissance, und im Sonnwendviertel entstehen neue Mischungen von Wohnen und sozialen Einrichtungen, betreutem Wohnen und Start-ups bis hin zu Aquafarming.

Unterm Strich keine schlechte Bilanz, konstatiert auch Andreas Rumpfhuber, Architekt, Architekturtheoretiker und Gastprofessor an der TU Wien. „Michael Ludwig und sein Team haben dazu beigetragen, dass das Modell des Wiener Wohnbaus heute in der internationalen Presse als eine Art Wohnbauschlaraffenland besprochen wird.“ Vor allem die Bauträgerwettbewerbe hätten gute und intelligente Lösungen für zeitgenössischen Wohnungsbau ermöglicht, so Rumpfhuber. „Allerdings ist die Dynamik dieses Modells über die Zeit abgeflacht und stellt sich heute eher hermetisch dar. Die aktuelle Baukonjunktur ist ein zusätzliches Hindernis für Innovation. Egal, was gebaut wird, es wird vermietet werden.“

Die gut geölte Maschine des Wiener Wohnbaus und seines einflussreichen Ressorts führt allerdings oft dazu, dass sie vor lauter Kraft die Aufgaben der Stadtplanung und des Städtebaus gleich mit übernimmt. So wird in Aspern oder im Sonnwendviertel Baufeld für Baufeld aufgefüllt, das Stadtbild ist dabei meist sekundär. Die Sonnenallee in Aspern mit ihren Styroporfassaden ist nicht gerade das Aushängeschild einer Seestadt, die den Geist der Gründerzeit in die Gegenwart transportieren will.

Architekt Peter Lorenz, der mehrere Wohnbauten in Wien und Tirol realisiert hat, stellt Michael Ludwig zwar auch ein gutes Zeugnis aus, kennt aber den Kampf, den Anspruch an Qualität bis zum Schluss durchzuhalten: „Am Projektanfang sind alle Bemühungen engagiert und bewundernswert. Zu oft zerrinnt dieser Anspruch im Laufe der Ausführungsphase und endet in Mittelmäßigkeit und Fehlerhaftigkeit.“

Was ist also die dringendste Aufgabe für den nächsten Wohnbaustadtrat? Mehr Schönheit im Wohnbau? Auch das, dazu kommen einige handfeste Probleme, die sich weniger leicht lösen lassen. Denn im Wohnbau knirscht und kracht es an allen Ecken und Enden, das bewährte Modell stößt immer öfter an seine Grenzen. Michael Ludwigs Nachfolger wird eine komplett andere Situation vorfinden als er im Jänner 2007.

„Ich mache das Geschäft jetzt 32 Jahre, aber so dornig wie jetzt war es nie“, konstatierte Wilhelm Zechner, bis zu seinem Ruhestand zum Jahreswechsel Generaldirektor der Sozialbau AG, eines der größten gemeinnützigen Bauträger. „Der Kapitalmarkt hat eine derartige Kraft entwickelt, dass die Politik dem relativ ohnmächtig gegenübersteht.“

Steigende Baukosten drohen die fixen Grenzen der Wohnbauförderung zu sprengen. Bauträger beklagen immer mehr Vorschriften und Normen, übertriebenen Brandschutz, bis ins kleinste botanische Detail gehende Umweltschutzauflagen und technische Standards, die das eigentlich günstige Angebot noch teurer machten als das Angebot der freifinanzierten Konkurrenz.

Anfang 2018 klagten die gemeinnützigen Bauträger, dass allein in Wien mindestens 1500 fertig geplante Wohnungen nicht gebaut werden könnten, weil die Preise der Baufirmen die für die Förderung geltenden Grenzen weit überschritten. Forderungen nach einer „Billigschiene“ im Wohnbau werden immer lauter. Stehen Wien also ein Wiederauferstehen des Plattenbaus und neue Großfeldsiedlungen ins Haus? Droht die Banlieue?

Fragen, die sich auch viele andere Städte stellen. In fast allen westeuropäischen Metropolen werden Grundstücke knapper und teurer. Wohnbauten, für die sich die Immobilienwirtschaft noch vor zehn Jahren kaum interessierte, sind heute Betongold, eine sichere Wertanlage für die globalen Fonds, die auf Immobilienmessen wie der MIPIM in Cannes verschachert wird.

Wohin das führt, sieht man in Städten wie San Francisco, Berlin oder Paris, in denen viele nur noch wohnen können, wenn sie nicht umziehen müssen, weil die Mieten ins Astronomische gestiegen sind. Für viele heißt es dann: Ab an die Peripherie oder in eine andere, billigere Stadt.

Die nächste Wohnbaustadträtin wird sich also intensiv mit Bodenpolitik beschäftigen müssen. Zwar besitzt die Stadt Wien immer noch mehr eigenen Grund und Boden als viele vergleichbare Metropolen, doch das Bauland wird knapp. Eine Studie der Arbeiterkammer im April 2018 ergab zwar, dass allein auf den vorhandenen Grundstücken der Gemeinde- und Genossenschaftsbauten rund 2000 Wohnungen mehr pro Jahr gebaut werden könnten. Jedoch unter der Bedingung, dass die, die schon dort wohnen, damit einverstanden sind. Genau hier liegt das Problem. Denn die sogenannte Nachverdichtung führt immer wieder zu Konflikten mit Bürgerinitiativen, ob am Steinhof und am Wilhelminenberg (der Falter berichtete), in Liesing oder in Transdanubien. Sand im Öl der Maschinerie.

„Das Problem der extremen Bodenpreise, die leistbaren Wohnbau heute in weiten Teilen Wiens unmöglich machen, ist ein schwerer Brocken, der wohl über das Wohnbauressort hinausgeht“, urteilt auch Robert Temel. „Eine zweite Herausforderung sind die bundespolitischen Pläne hinsichtlich Wohnrecht, insbesondere Mietrecht – diese lassen eine weitere Verteuerung vor allem im gründerzeitlichen Bestand in Wien erwarten, wo die Preise in den letzten Jahren schon massiv gestiegen sind.“ Peter Lorenz stimmt zu, sieht aber darin auch Potenzial: „Die Bodenpreise werden weiter steigen, solange Wien zu den wachsenden Städten gehört. Damit werden aber neue kreative Lösungen interessant, wie innovative Widmungen und kombinierte Nutzungen.“

Das kann gelingen, wenn sich der Wiener Wohnbau den Angriffen aus dem eigenen Land erwehrt. Dass die türkis-blaue Regierung auf die Unterstützung der Immobilienwirtschaft zählt, ist ein offenes Geheimnis. Im Frühjahr wurde die jahrelang vorbereitete Einrichtung einer Wohnbauinvestitionsbank (WBIB) gekippt, obwohl Brüssel grünes Licht für dieses Finanzierungsmodell gegeben hatte, mit dem laut Experten 2000 bis 7000 mehr Wohnungen pro Jahr möglich wären. Investoren versuchen mit immer neuen Mitteln, an das Betongold des sozialen Wohnbaus zu kommen. Manchmal auch mit Beteiligung des Wohnbaustadtrats: 2017 wurde die ehemals gewerkschaftliche WBV-GÖD (heute WBV-GFW) vom Schweizer Unternehmer Christian Hosp erworben, inklusive ihrer 3000 Sozialwohnungen.

Die dafür erforderliche Genehmigung der Stadt Wien wurde nicht eingeholt, die zuständige MA 50 leitete ein Verfahren ein, es droht der Verlust der Gemeinnützigkeit. Kritiker meinen, der Investor ziele genau darauf ab, um die Wohnungen auf den freien Markt zu bekommen.

Der nächste Wohnbaustadtrat wird also Maschinist eines stotternden und unter Beschuss geratenen Flaggschiffs sein. Was sind die Wünsche der Architekten? Dass die zurzeit in Vorbereitung befindliche, von Michael Ludwig und Wiens Chef-Wohnbauforscher Wolfgang Förster initiierte Internationale Bauausstellung (IBA) zum Thema „Neues Soziales Wohnen“ ein gutes Signal ist, darin stimmen alle überein. „Ich wünsche mir aber noch mehr Mut und Zivilcourage“, sagt Peter Lorenz. „Wohlstand macht unbeweglich. Nur mit Mut zu Experimenten und Pilotprojekten werden Fortschritte erreicht.“

Auch Andreas Rumpfhuber hat Experimente auf der Wunschliste: „Ich wünsche mir jemanden, der zum Beispiel fünf Prozent des Neubaus für experimentelle Projekte reserviert, die von jungen und innovativen Architekten und Architektinnen entworfen werden. Ich wünsche mir eine mutige und emanzipierte Wohnbaustadträtin, die den Wiener Wohnbau nicht nur in ihrer Öffentlichkeitsarbeit positiv besetzt, sondern aktiv mit dem sozialdemokratischen Erbe umgehen will und auch keine Angst hat, Fehler zu begehen.“

 

Erschienen in: 
Falter 19/2018, 09.05.2018