Eine Stadt und ihre Hochhäuser: Eine Geschichte von Liebe, Hass und Missverständnissen, offenen und verdeckten Interessen. Und vom Fehlen einer großen Idee.
Winterharter Riesenbambus. Die Felsenklippen von Acapulco. Der Müllkessel in der Spittelau. Was haben sie gemeinsam? Genau, sie sind alle 35 Meter hoch. Einen Zentimeter mehr, und sie wären in Wien ein Hochhaus. Denn alles, was höher als 35 Meter ist, gilt laut §7f der Wiener Bauordnung als ein solches. Einfach, oder? Bis hierhin schon. Alles, was danach folgt, ist in der Regel kompliziert.
Das ist es schon länger, denn die Geschichte von Wien und seinen Hochhäusern ist ein Stop-and-Go. Mal will Wien vertikal werden, dann sträubt es sich wieder mit aller Macht dagegen. Beides mit gutem Grund. Die Debatte um das Heumarkt-Projekt war nicht der erste und wird nicht der letzte Hochhaus-Streit sein. Er offenbarte tiefe Gräben und riss neue Gräben auf, die mitten durch Parteien, durch die Architektenschaft und die Öffentlichkeit gingen. Diesen erbitterten, im Moment still schwelenden, aber noch längst nicht abgeschlossenen Streit als Konflikt zwischen Bewahrern und Erneuerern zu sehen, greift zu kurz. Manche Bewahrer sind weniger konservativ als manche sogenannten Erneuerer, und über das, was bewahrt werden soll, gibt es mehr als zwei Meinungen.
Ein solches Hin und Her lässt sich auch an zwei neuen Hochhaus-Entscheidungen ablesen, die in diesen Tagen getroffen wurden. Zum einen am Nordbahnhof: Dort wächst das Stadtentwicklungsgebiet langsam vom Praterstern nach Nordwesten, das oder beschlossene Leitbild (Vlay Streeruwitz Architekten) "Freie Mitte – vielseitiger Rand" sieht eine Stadtwildnis auf dem ehemaligen Bahngelände vor, umringt mit einem Kranz von Bebauung, darunter eine Handvoll Hochhäuser. Für drei davon wurde vorige Woche der Wettbewerb entschieden. 60 bis 95 Meter werden sie hoch. Das von AllesWirdGut Architekten ein doppelt geknicktes, nach oben abgetrepptes Band, das von Querkraft Architekten drei luftig übereinandergestapelte weiße Boxen. Der höchste Turm stammt von den Nicht-Lokalmatadoren BevkoPerovic aus Ljubljana und sieht etwas kurios wirkende Rundbogenfenster vor den Wohnräumen vor.
Wie auch immer sie am Ende aussehen werden, einen Aufruhr von Heumarkt-Dimensionen ist nicht zu erwarten. Hört man sich bei den Architekten und Bürgerinitiativen um, scheinen Hochhäuser am Nordbahnhof kein großes Problem für Wien zu sein. Vielleicht, weil das Leitbild hier schon frühzeitig mit den Bürgern entwickelt wurde, vielleicht, weil es hier in der Bahn-Wildnis einfach keine direkten Anrainer gibt, die ein Hochhaus stören würde. Von einem Weltkulturerbestatus und einem Canaletto-Blick wie beim Heumarkt-Projekt ganz zu schweigen.
Bei der zweiten Hochhaus-Entscheidung dieser Tage geht es nicht so einfach zu. Hier gibt es zwar auch keinen Canaletto, aber sehr wohl Anrainer, streitbare dazu, und Gräben zwischen Bezirk und Stadtregierung: das sogenannte Althan Quartier im Alsergrund. So der modisch-bindestrichfreie Name, den sich die Investorengruppe 6B47 für die Überbauung des Franz-Josefs-Bahnhofs ausgedacht hat. Bis zu 126 Meter sollte eine Vertikale hier ermöglicht werden, das sah das im März 2017 in der Stadtentwicklungskommission beschlossene Leitbild vor.
126 Meter zwischen zwei dicht bebauten Grätzeln: Das sorgte voriges Jahr für heftigen Streit, obwohl das Projekt in einem "kooperativen Planungsverfahren" entwickelt wurde – ein ostentativ harmonisches Label, das in manchen Stadtentwicklungsgebieten, etwa im Sonnwendviertel, recht gut funktioniert hat, sich aber schon beim Heumarkt als erste züngelnde Flamme an der Zündschnur erweisen sollte.
Im Jänner 2018 gab Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou dem Druck von Bürgern und Bezirk nach und stoppte vorerst das Widmungsverfahren für das Althan Quartier. Nicht gestoppt wurde der Architekturwettbewerb. Dessen Entscheidung ist bereits gefallen, das Ergebnis wird, laut Auskunft Büro Vassilakou, in Kürze von den Investoren bekanntgegeben werden. Ein Ergebnis, das, wenn man den Gerüchten glaubt, weitere Fragen aufwerfen wird. Dass h der Bezirk Alsergrund am 18.Jänner dem Hochhaus eine Absage erteilt hat, aber trotzdem in der Jury des Wettbewerbs vertreten war, der eben diese Hochhäuser ermöglichte, könnte wettbewerbsrechtlich fragwürdig sein, urteilte der Architekturexperte Walter Chramosta vor kurzem in einem Kommentar.
Mal freudig begrüßt, mal erbittert bekämpft: Wiens Verhältnis zur Vertikalen ist eine komplizierte amour fou. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, war sie das vom ersten Moment an. Denn Hochhausdebatten scheinen hier in jeder Generation von Neuem aufzuflammen. Technokratische Höhenflüge kollidieren mit Beschützerinstinkten, knallharte Profitinteressen umwerben Beamte mit „dynamischen und innovativen Visionen“, Hochhausflauten folgen auf Hochhausbooms, vertikale Prachtstücke auf zusammengepferchte „Landmarks.“
Mit dem Hochhaus in der Herrengasse, das 1932 den Auftakt bildete, war Wien im europäischen Vergleich eher spät dran. Dass das Palais Liechtenstein für das damals neuartige Hochhaus dran glauben musste, und hier die – wenn auch sehr gemäßigte – Moderne mitten im Herz der Stadt Einzug hielt, sorgte bei nicht wenigen für Schnappatmung. Dabei ist der abgetreppte Bau von den engen Gassen kaum als Hochhaus erkennbar, nur beim Blick über die Dächer sieht man es zwischen Minoriten- und Michaelerkirche glasig-filigran aufragen.
Weniger kontrovers wurde der Hochhaus-Schub in den ersten Nachkriegsjahrzehnten von den Wienern aufgenommen. Der Ringturm und das Hochhaus beim Matzleinsdorfer Platz sind Beispiele handwerklich solider, bisweilen eleganter Hochhausarchitektur der Fünfziger Jahre. Proteste gab es nur, wenn mal wieder ein Barockpalais für neue Türme und Scheiben geopfert wurde. Etwas weniger an der Wiedner Hauptstraße, wo der als „Palaisverwerter“ geschimpfte Architekt Georg Lippert 1964 das damalige Semperit-Hochhaus (heute Wirtschaftskammer) anstelle das Palais Erzherzog Rainer errichtete. Dafür umso mehr, als das niedrige Gebäude der Wiener Gartenbaugesellschaft dem 14-geschossigen Gartenbau-Hochhaus weichen musste. Einer der ersten Hochhausstreits der Nachkriegszeit, inkluisve Bürgerinitiativen und wuchtigen Wortmeldungen – der Architekturkritiker Friedrich Achleitner nannte den Neubau ein „Geschwür“ in der Inneren Stadt. Heute gilt er als Ikone der Nachkriegsarchitektur.
Wiens Hochhäuser erlebten ihre Hochs und Tiefs in nahezu globaler Gleichzeitigkeit. Als sich um 1970 die ersten Risse in der Moderne des Bauwirtschaftsfunktionalismus zeigte, die Ölkrise den Optimismus dämpfte und Stadtreparatur wichtiger als Stadtneubau wurde, galten Hochhäuser plötzlich als unmenschlich, in Wien genauso wie in Berlin und London. Zwar wuchsen noch ein paar Großbauten wie Alt-Erlaa in den Himmel, doch diese waren bereits geplant gewesen. In den 80er Jahren stagnierte das Stadtwachstum, die Zeit der Vertikalen schien vorbei.
Bis Wien aus seinem Dämmerschlaf am Eisernen Vorhang erwachte, und einige gewichtige Protagonisten eine bisher ungekannte Hochhauslust entwickelten. Mit Büroflächen ließ sich damals einiges verdienen, stadtplanerisch waren die ersten Türme dieser Zeit oft ein Fehlgriff. Der Florido-Tower stand nach seiner Fertigstellung alleine ratlos und dumm am Rande der Alten Donau herum und tut das noch heute.
Der Millennium Tower durfte dank des berüchtigten (und inzwischen entschärften) §69 der Wiener Bauordnung, der „unwesentliche Abweichungen“ von der Widmung erlaubte, um unwesentliche 62 Meter anwachsen. Die Donauplatte wurde Opfer von Wiens fataler Vorliebe für "Masterpläne", die jederzeit wieder über Bord geworfen werden können, und zur Spielwiese für Gespanne aus Investoren und Stararchitekten. Zu einem Stück Stadt ist diese Hochhaus-Abstellfläche nie geworden und wird es auch nie werden, für den Wienerberg gilt dasselbe. Die wohl heftigste Debatte entbrannte einen Steinwurf von Gartenbau und Heumarkt, am Bahnhof Wien Mitte. Nach jahrelangem Hin und Her blieb von den hochtrabenden Plänen nur der unelegant verdrehte Justiztower übrig.
Dabei gibt es seit 27 Jahren ein Hochhauskonzept der Stadt, besonders präzise war es jedoch nie. Das erste wurde 1992 von COOP Himmelb(l)au/Synthesis erstellt, das zweite von Silja Tillner schlug 2002 immerhin Eignungszonen entlang der öffentlichen Verkehrsachsen und Ausschlusszonen (allerdings nicht sehr viele) vor. Das 2014 beschlossene, von Christoph Luchsinger erarbeitete Konzept, sieht keine Ausschlusszonen vor, setzt dafür auf den „Mehrwert“ für die Allgemeinheit, die ein Hochhaus zu liefern hat. Wie dieser Mehrwert aussieht, ist Verhandlungssache.
Oder, in eigene Worten: "Das vorliegende Hochhauskonzept baut auf den Werten der städtebaulichen Leitlinien für Hochhäuser aus dem Jahr 2002 auf, verlagert aber absichtlich die Aufmerksamkeit auf gesamtstädtische Betrachtungen und flexible, strukturierte Entscheidungsprozesse unter Einbezug aller Beteiligten im Interesse höchstmöglicher Qualitätssicherung." Sprich: Alles geht, im Prinzip, wenn es gut begründet ist, irgendwie fast überall. Man könnte auch sagen: Abwarten und mal schauen. Entschieden wird, wenn der Investor seine Pläne auf den Tisch legt.
Einen neuen Schub erfuhren die Türme mit dem Run auf die Metropolen, der seit der Jahrtausendwende anhält. Plötzlich sind Wohnhochhäuser, rund 30 Jahre ein architektonisches Tabu, heiß begehrt, sowohl für Stadtregierungen als Ventil für den überhitzten Bodenmarkt als auch für Developer, denen selbst billigst dahinentworfene Wohnungen aus den Händen gerissen werden. Galten Wohntürme in den 60ern noch als „Betonsilos“ für Finanzschwache, sind sie heute Betongold für Anleger.
Kein Wunder, dass einige seit Jahren in der „Pipeline“ hängende Türme flugs umgeplant werden. Der DC Tower 2, ursprünglich als reiner Büroturm vorgesehen, wird jetzt als gemischt genutztes Hochhaus errichtet, allerdings erst nach dem neu hinzugekommenen DC Tower 3. Es wird eng auf der Abstellfläche der Donauplatte. Die benachbarten Danube Flats, von Anfang an mit dem Makel eines umstrittenen Wettbewerbs behaftet, kreisen weiter in der Warteschleife.
Am heftigsten sind die Wachstumsschübe im Osten. In Erdberg, neben der Städtebaulichen wie linguistischen Totgeburt TownTown, wächst mit dem TRIIIPLE gleich ein Dreifach-Turm in die Höhe, inklusive Überplattung der Autobahn. Neben dem Gasometer steht der Baubeginn für die MGC Plaza an, an der Krieau das Viertel Zwei Plus mit einem Doppelturm von 90 und 120 Metern Höhe.
Neben dem Hauptbahnhof hat der aus drei Bauten bestehende Bürokomplex The Icon seine maximale Ausbauhöhe erreicht und wirkt dabei seltsam stumpf und abgeschnitten, am anderen Ende des neuen, lukrativen Hochhausclusters auf ehemaligem ÖBB-Grund werben Renzo Pianos auf schlanken Betonstelzen balancierende Park Apartments Schweizergarten mit Belvedereblick.
Es sind vielversprechende und weniger vielversprechende Türme. Manche werden sich unauffälliger als gedacht in die Stadt einfügen, andere werden, wie das Gartenbauhochhaus, von späteren Generationen geschätzt werden. Wieder andere werden, so pompös sie ihren „Landmark“-Status auch propagieren, nie mehr sein als Zeugen einer Ära der schnellen Flächenmaximierungsarchitektur. Denn wenn Landmarks in Rudeln auftreten, sind sie keine Landmarks mehr. Und ein Hochhaus-Rudel ist noch kein Zeichen guter Stadtplanung. Nicht, wenn jedes Rudel nach eigenen Gesetzen mit eigenen Masterplänen vor sich hin wächst, als wäre es eine Stadt für sich und nicht ein Teil Wiens.
Vielleicht liegt Wiens schizophrenes Verhältnis zu Vertikalen auch daran, dass es niemals ein Bild gab, was das eine Hochhaus mit dem anderen zu tun hat, geschweige denn, was beide mit der Stadt zu tun haben und wie die Skyline von welchem Blickpunkt aus aussehen sollte. Kein Wunder, dass im Streitfall versucht wird, diese Vakuum mit alten Ölgemälden zu füllen. Aber ein Canaletto macht noch keine Skyline. Die nächsten Debatten sind vorprogrammiert.