standard

Das "Neunerhaus " in Wien bietet Obdachlosen ein Zuhause auf dem Weg in die Normalität. Mit Architektur, die mehr ist als nur Norm

Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben", sagt Ernst S. und blickt aus seinem Fenster im dritten Stock in den Hof. Gut, er sei zwar ein Naturmensch, deswegen habe er kurz gezögert vor dem Einzug im April. Viel Grün gibt es nicht auf der Eckparzelle im dritten Bezirk. Aber der Prater ist nur wenige hundert Meter entfernt. Zum Angeln fährt er zum Wienerbergteich.

Ein Tisch, zwei Stühle, Bett, Regal, Küchenzeile, 25 Quadratmeter – eine der 73 Wohnungen im "Neunerhaus", das Ende Juni eröffnet wurde. Nicht lange ist es her, da wohnte der heute 58-Jährige ganz anders. Vier Jahre lang auf einem Dachboden, im eisigen Winter unter mehreren Decken, im Sommer war es brütend heiß. Seine Papiere wurden gestohlen, von einem Überfall trägt er noch eine Narbe. Heute hat er sein eigenes Reich hinter seiner eigenen Tür – im wohltemperierten Passivhaus. "Es ist schön ruhig hier."

Die millionenschwer erweiterten Swarovski-Kristallwelten boten drei Architektenteams Gelegenheit für facettenreiche Assoziationen

Es sind ja oft die kleinen Dinge im Leben, die wahre Freude machen. Das weiß jeder Glückwunschpostkartenversender und Spruch-Tassen-Verschenker. Das ist in der Architektur nicht anders. Ein spezielles, schrulliges Kapitel der Baugeschichte sind die Aufträge reicher Mäzene, etwas Kleines, Unterhaltsames auf ihren ausufernden Ländereien zu errichten.

Die englische Gartenkunst kennt ihre "Follies", architektonische Spielereien, exzentrische Kulissen in arkadischen Gärten, gerne als wilder Ritt durch die antike Baugeschichte nach Gusto des Finanziers. Auch italienische Residenzen kennen ihre Türmchen, und Schönbrunn hat seine Ruinenarchitektur. Das ist mal harmlos, mal albern, mal dilettantisch, doch manchmal treffen gerade die funktionslosen, romantischen Bauten ins emotionale Herz der Baukunst. "All art is quite useless", wusste schon Oscar Wilde.

Nach jahrzehntelangem Zögern hat München endlich sein NS-Dokumentationszentrum, mitten im ehemaligen Parteiviertel der NSDAP. Die Ausstellung überzeugt, die Architektur hält sich fast zu sehr zurück.

Kilometerlange Aufmarschachsen, gigantische Kuppelhallen: Die Ausstellung "Wien. Die Perle des Reiches", zur Zeit im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen, zeigt, wie im Dritten Reich auch die Architektur gewaltsam ihren Stempel in die Städte drückte. Auch die Hauptstadt Berlin und "Führerstädte" wie Nürnberg mit seinem Reichsparteitagsgelände wurden gigantomanisch auf den vermeintlich tausendjährigen Maßstab aufgepumpt.

Doch eine Stadt war anders als die anderen: München, die "Hauptstadt der Bewegung", brachte schon ein besonderes Naheverhältnis zum Nationalsozialismus mit. Hier entstanden SA, SS und HJ, hier wurde der ungehobelte Gefreite Hitler nicht nur im Bierkellerdunst, sondern auch von der feinen Gesellschaft sozialisiert, hier wurde 1923 auf die Feldherrnhalle marschiert. In eine Stadt, die ihnen einen solchen Nährboden bot, mussten die Nazis auch nach 1933 keine neue Schneise schlagen. Den idealen Aufmarschplatz gab es schon: Der klassizistische Königsplatz in der noblen Maxvorstadt musste nur gepflastert und erweitert werden. Die baulichen Anleihen an die Antike aus dem 19. Jahrhundert nahm man gerne mit, und setzte ihnen trutzige Blöcke in die Symmetrieachse.

Die Geschichte eines weggeshitstormten Basketballkorbs - und was man daraus über unser Stadtverständnis lernen kann.

Wer kennt sie nicht, die versonnenen Blicke mitteleuropäischer Touristen, wenn sie in atmungsaktiven Partnerlookjäckchen kurzurlaubend durch mediterrane Städte schlendern. Die engen Gässchen, wäscheleinenüberspannt wie in einem 50er-Jahre-Film, hier das Kätzchen, dort die knopfäugig-fotogenen herumtollenden Kinder, und schau nur, dort oben schreien sich zwei Frauen aus ihren Fenster über die Gasse den neuesten Klatsch zu. Kann Urbanität noch pittoresker sein?

Mit Gigabytes voller Nahaufnahmen südlichen Straßenlebens und patinös abblätternder Fassaden auf der Speicherkarte kehrt man zurück in die Heimat - um dort wieder auf der Eigenparzelle hinter blickdichten Zwei-Meter-Thujenpalisaden über dem Ulrich-Seidl-Keller in Deckung zu gehen, und sollte die Nachbarin herüberschreien, wird per Mail mit dem Anwalt gedroht. Urbanität ja, aber bitte nicht zu Hause.

Zugegeben, wir haben hier herzhaft in den Klischeetopf gegriffen, und doch bleibt festzuhalten: Urbanität bedeutet vor allem: Konfrontation mit dem Fremden, Unbekannten und Überraschenden. In der Stadt endet die Privatheit nicht am Jägerzaun, sondern in der Regel an der Wohnungstür. Was davor ist, ist Verhandlungssache.

Wer baut eigentlich heute noch Kirchen? Und warum liebt Gott den Beton? Ein Gotteshaus in Wien und ein Dokumentarfilm über eine Kölner Architektendynastie geben Antworten

Fragt man Architekten nach ihrer Traum-Bauaufgabe, ist die häufigste Antwort neben "ein Museum!" und "Alle Bauaufgaben sind ein Traum!" vor allem ein meist versonnen vorgebrachtes: "Eine Kirche." Mag der Architekt selbst noch so atheistisch sein, Kirchen sind die kostbaren Exoten unter den Gattungen des Bauens. Hier darf der Planer mit Licht, Raum, und Material endlich tun, was er schon immer wollte, frei von peniblen Zwängen. Die Liturgie kennt keine ÖNORM.

So edel der Kirchenbau sein mag, so selten kommt er in Zeiten des konfessionsübergreifenden Mitgliederschwunds vor. Die letzte große Ausnahme in unseren Breiten verdankte sich einer Katastrophe: Das erzkatholische Köln war 1945 nahezu komplett zerstört, inklusive aller Kirchen der Innenstadt mit Ausnahme des Doms. So wurde die Rhein-Metropole in der Nachkriegszeit zum Eldorado des sakralen Bauens, dank Architekten wie Emil Steffann und Rudolf Schwarz. Ersterer mit Ziegeln, Letzterer mit sparsamem weißem Putz oder auch, bei seinem einzigen Bau in Österreich, der Pfarrkirche St. Florian in Wien-Margareten, mit Beton.

Keine Architekturgattung wird so geschmäht wie der Brutalismus. Das ändert sich aber gerade wieder.

"Zurück zum Beton!", brüllte die Düsseldorfer Post-Punk-Band S.Y.P.H. 1980 in ihrem gleichnamigen Song. Die hier so sloganhaft offen deklamierte Liebe zu diesem Baustoff war zu jener Zeit so unpopulär, dass sie sich gut zum Rebellengestus eignete. Vor allem ließen sich mit diesem schlimmen Wort die versponnenen Hippies in ihren Landkommunen am besten verschrecken. Hochhaus, Stadtautobahn und eine trotzig-stolze, harte Urbanität anstatt eskapistischer Batikmeditation und Baumumarmung auf dem Bauernhof.

Das Hochhaus erlebt weltweit eine Renaissance als Luxuswohnort im ökologischen Gewand

Kaum war am Ground Zero das neue One World Trade Center eröffnet, mit 541 Metern der höchste Wolkenkratzer der USA, vermeldete New York eine weitere Bestmarke: Vor kurzem ging die teuerste jemals in Manhattan verkaufte Wohnung auf den Markt. 100.471.452,77 Dollar legte ein unbekannter Käufer für das zweigeschoßige Penthouse im brandneuen, vom Pritzker-Preisträger Christian de Portzamparc entworfene Wohnhochhaus One57 hin und darf sich über den unverstellten Blick auf den Central Park freuen. Ein paar Blocks entfernt entsteht an der Park Avenue zurzeit das höchste Wohnhochhaus der westlichen Hemisphäre - Concierge und Catering inklusive.

"Straße der Milliardäre"

So schnell kann es gehen: War nach der Finanzkrise 2008 der Hochhausbau weltweit schockgefrostet, schießen heute die Skylines wieder wild in die Höhe. 2014 wurden 97 Bauwerke mit mehr als 200 Metern Höhe fertiggestellt, mehr als je zuvor. 58 davon stehen in China. Doch zwei Dinge sind anders als vor der wirtschaftlichen Atempause: Wie das Beispiel New York zeigt, bestehen Wolkenkratzer heute nicht mehr ausschließlich aus brav gestapelten und je nach Architektengusto außen glasverspiegelten Bürogeschoßen. Immer öfter wird in luftiger Höhe gewohnt. Sozialwohnungen sind eher keine darunter. In Manhattan ist schon die Rede von einer neuen "Straße der Milliardäre". Hier wohnt das obere eine Prozent, mit dem Weitblick über metropolitane Dächer als neues Statussymbol.

Vorarlberg ist speziell. Anders als die übrigen Bundesländer - Niederösterreich ausgenommen - kann es mit keiner alles dominierenden, Bürger, Business und Budgets aufsaugenden Hauptstadt aufwarten. Im produktiven Siedlungsteppich der Rheinebene teilen sich die mehr oder weniger gleich großen Kleinstädte Bregenz, Dornbirn und Feldkirch in einträchtiger Rivalität das Ländle-Profil auf: Dornbirn steht als Tor zum Bregenzerwald für das innovative Vorarlberg, die Landeshauptstadt Bregenz für Administration und offizielle Landeskultur mit Kunsthaus und Vorarlberg-Museum. Das südliche Feldkirch schließlich hat sich in den letzten Jahren mit der Designmesse Art&Design und dem Poolbar-Festival als Fokus des jungen, gegenwärtigen Lebens profiliert.

Ambition und Ameisenhaufen

Wie die Ambitionen, so die Stadtgestalt: Bregenz mit seiner topografisch zerrupften Altstadt, das mit repräsentativer Uferfront die Fühler zum Bodensee ausstreckt, aber noch nicht ganz angekommen ist. Dornbirn als geschäftig wuselnder, mit seinen Nachbarorten längst zusammengewachsener Ameisenhaufen. Das robuste Feldkirch theatralisch zwischen felsige Berge geklemmt, mit voralpin-wildromantischen und verkehrstechnisch problematischen Engstellen.

Er kommt aus Burkina Faso und hat sein Büro in Berlin. Der Architekt Diébédo Francis Kéré bekam den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ein Gespräch über das Vor-Ort-Sein und die Ästhetik des Lehmbaus.

 

Der seit 1992 alle zwei Jahre vergebene Schelling-Preis für Architektur ist so etwas wie ein Ruhmindikator der Branche. Nicht wenige unter den Preisträgern der Karlsruher Stiftung wurden wenig später mit dem Pritzker-Preis gekrönt. Dabei folgt die Kandidatenauswahl nicht der reinen Prominenz, sondern einem Thema, in diesem Jahr "Indigenous ingenuity - direkt vor Ort".

 

Während der Lebenswerk-Preis für Architekturtheorie schon vorher feststand – er ging an den Finnen Juhani Pallasmaa –, wurden die drei Kandidaten für den Architekturpreis am 12. November live gekürt. Dabei wollten Anna Heringer aus Deutschland, Carla Juaçaba aus Brasilien und Diébédo Francis Kéré aus Berlin und Burkina Faso am liebsten gar nicht gegeneinander antreten. Man schätze sich gegenseitig zu sehr, versicherten sie.

In der Tat sind alle drei im selben Feld unterwegs – sie bauen abseits der ausgetretenen Pfade, vor Ort und kooperativ: Heringer fusioniert bei ihren Bauten in Bangladesch lokales Wissen mit Expertise von außen, Juaçabas Expo-Pavillon in Rio de Janeiro ist ein programmatisch offenes Gerüst, und Kéré gewann mit dem Schulbau in seinem Heimatdorf Gando bereits 2004 den Aga Khan Award. Als die Jury schließlich ihn kürte, kündigte er sofort an, das Preisgeld von 30.000 Euro zu teilen. Warum das Wir wichtiger ist als das Ich, erzählte er dem STANDARD in Karlsruhe.

Mit ihrem Neubau des Schlesischen Museums im polnischen Katowice schufen die Grazer Architekten Riegler Riewe ein kulturelles Bergwerk im Untergrund

Schweigend deutet die bejahrte Museumswärterin auf einen der 24 Sitze, die um die riesige hölzerne Trommel angeordnet sind. Fügsam setzt man sich, dann drückt sie mit dem Fuß auf den Schalter am Boden. Es beginnt zu sirren und zu rattern. Schaut man durch die doppelten Gucklöcher, schieben sich plastische, schwarzweiße Bilder von rechts nach links durch, manchmal holpern und verrutschen sie leicht. Was hier so rührend mechanisch rattert, ist ein über 100 Jahre altes Stereoskop im Schlesischen Museum im polnischen Katowice. Die Fotos zeigen rußverschmierte Bergmänner, katholische Nonnen, Gründerzeit-Bauten der boomenden Industriestadt um die Jahrhundertwende, die um 1850 noch ein Dorf war, aber auch Bauten aus der jungen polnischen Republik der 1920er-Jahre wie den expressionistischen Wolkenkratzer Drapacz Chmur.

Auch heute findet man noch reichlich rußgeschwärzte Fassaden in Schlesien, aber sie verschwinden zusehends. Zwar prägt der Bergbau in der 300.000-Einwohner-Stadt noch die Identität, aber riesige Brownfields zerfallender Schwerindustrie künden auch hier vom Ende einer Ära. Ähnlich wie in Bilbao, Manchester oder dem Ruhrgebiet ist der Wechsel zu Dienstleistung, Kultur und Bildung längst im Gange.