Zurück zum Beton!

Keine Architekturgattung wird so geschmäht wie der Brutalismus. Das ändert sich aber gerade wieder.

"Zurück zum Beton!", brüllte die Düsseldorfer Post-Punk-Band S.Y.P.H. 1980 in ihrem gleichnamigen Song. Die hier so sloganhaft offen deklamierte Liebe zu diesem Baustoff war zu jener Zeit so unpopulär, dass sie sich gut zum Rebellengestus eignete. Vor allem ließen sich mit diesem schlimmen Wort die versponnenen Hippies in ihren Landkommunen am besten verschrecken. Hochhaus, Stadtautobahn und eine trotzig-stolze, harte Urbanität anstatt eskapistischer Batikmeditation und Baumumarmung auf dem Bauernhof.

Doch die Rehabilitierung des brutalen Betons erwies sich als ebenso massentauglich wie der Post-Punk: nicht sehr. Kaum ein Kapitel der Architekturgeschichte ist unter Nichtarchitekten so verhasst wie der Brutalismus der Nachkriegszeit. Dass der Begriff sich nicht von der Gewaltanwendung, sondern vom "béton brut", also dem Sichtbeton, herleitet, besänftigte niemanden. Noch heute ist die Öffentlichkeit schnell zur Hand mit einem entrüstet geäußerten "Betonklotz!", selbst wenn das so geschmähte Gebäude gar keinen Beton nach außen zeigt.

Dabei stand gerade der Brutalismus für eine Architektur, die sich wie wenige andere dem Dienst am Allgemeinwohl verpflichtet fühlte. Bibliotheken, Konzerthallen, Universitäten, Schulen waren es, die in den zukunftsfrohen 60er-Jahren in Sichtbeton erbaut wurden. Das Grau störte nicht, schließlich waren die Sixties bunt genug.

Vor allem in Großbritannien blühte der Sichtbeton auf. Architekten wie Alison und Peter Smithson vom Team 10 oder Ernö Goldfinger bekannten sich zu den bildhauerischen Qualitäten dieses Baustoffes, mit dem die oft so spröde Moderne sich zu skulpturaler Sinnlichkeit aufschwingen konnte. Einer ähnlich bildhauerischen Lust an der Betonseligkeit frönte man in den USA, in der Schweiz und jenseits des Eisernen Vorhangs. In Deutschland wurde Pritzker-Preisträger Gottfried Böhm mit seinem expressionistischen Wallfahrtsdom in Neviges bei Köln berühmt, in Wien Fritz Wotruba mit seiner aus Betonquadern aufgetürmten Kirche.

In den späten 1970er-Jahren hatte der Brutalismus seinen Kredit weitgehend verspielt, man war auf dem Rückweg zur kleinteiligen Stadt, und die Postmodernen verachteten die Geschichtsvergessenheit der Beton-Sixties. Heute ist ein Großteil der Betonbauten vom Abriss bedroht oder bereits verschwunden.

Das kleeblattförmige Prentice Hospital in Chicago verschwand letztes Jahr trotz vieler Petitionen (siehe Ansichtssache), bei der öffentlichen Bibliothek in Birmingham rücken demnächst die Bagger an. Sie wird durch ein Ensemble aus Viersternehotels und Büros ersetzt. Man kann sich fragen, was nun "zynischer" ist: ein öffentlicher Bau aus Beton oder ein privates Luxusensemble aus Spiegelglas und Natursteinplatten?

Rohheit und Kontemplation

Trotz des immer noch fortschreitenden Abrisses hat die Trendwende schon begonnen: 2012 setzte Rem Koolhaas mit der Ausstellung "Public Works" auf der Biennale Venedig den von progressiven Beamten (ja, solche gab es damals) initiierten öffentlichen Bauten der Nachkriegszeit ein Denkmal. Und vor wenigen Wochen wurde in Großbritannien eine Reihe von Bauten der Baujahre 1964 bis 1984 unter Denkmalschutz gestellt.

Nicht nur das: Auch bei Neubauten erlebt der Sichtbeton eine Rehabilitierung. In geschützten Biotopen wie der Schweiz hatte er ohnehin immer eine ungebrochene Tradition, war der Beton dort doch so fein verarbeitet, dass ihm jegliche Brutalität abgeschliffen wurde. Auch in Vorarlberg tauchen zwischen den meisterhaften Holzbauten immer wieder Werke aus Sichtbeton auf. Paradebeispiel dafür sind Marte.Marte Architekten, die nicht nur mit ihren alpinen Brücken, sondern auch mit ihren Einfamilienhäusern und vor allem Schulbauten, zuletzt 2011 mit dem sozialpädagogisches Zentrum Dornbirn, auf sich aufmerksam gemacht haben. Allerdings verströmen diese mehr den Geist präziser Sachlichkeit als die bildhauerische Wucht der Sixties. Doch auch diese gibt es.

Betonrost auf Sichtbetonquader

Zum Beispiel in Steyr: Architekt Gernot Hertl hatte das halb zerfallene Bauernhaus von 1650 am Flussufer der Enns entdeckt, nicht weit von seinem Büro. Er entkernte die ruinenromantischen Außenmauern, setzte ihnen einen Betonrost auf und einen kantig-rauen Sichtbetonquader in sie hinein, der als Erker in Richtung Fluss hinausragt. Da dieses "Gartenhaus" nur im Sommer als Refugium genutzt wird, konnte der bautechnische Aufwand für Wärmeschutz geringgehalten werden. Dass sich roher Sichtbeton für meditative Kontemplation eignet, hatte schon Le Corbusier 1960 mit seinem Kloster Sainte-Marie de la Tourette bewiesen.

"Einerseits wird das Mauerwerk von der rohen Betonoberfläche ergänzt, andererseits sind beide Oberflächen auch gleichzeitig die Konstruktion, jede ihrer Zeit entsprechend," erklärt Hertl die Materialwahl. "Der Beton schafft sämtliche Anforderungen in einem, er eignet sich konstruktiv und raumbildend für Wand, Decke und Dach. Und er ist beim Gartenhaus auch gleichzeitig die Fassade. Damit folgt er eindeutig der Ideologie des Brutalismus, also dem Sichtbarmachen des rohen Materials."

Leitstelle als Monolith

Es geht auch noch sichtbarer. Auf den ersten Blick wie aus den 1970er-Jahren ins Inntal hineingebeamt wirkt der im Herbst 2014 eröffnete Neubau der KWB-Leitstelle des Tiroler Energieversorgers Tiwag in Silz. Ein monolithischer Turm, komplett in eingefärbtem Beton, nach zwei Seiten geschlossen und abstrakt, nach Norden und Süden mit dunklen Fensterbändern perforiert, die eigentliche Leitstelle wie eine Schublade herausgezogen. Eine selbstbewusste Sichtbeton-Skulptur, wie man sie hierzulande lange nicht gesehen hat.

Dabei war der Weg zur Form ein ganz pragmatischer, wie Michelangelo Zaffignani von Bechter Zaffignani Architekten erklärt. "Wir haben die Bauaufgabe analysiert und erkannt, dass sich die geforderten Räume gut stapeln lassen." Den "béton brut" wählte man aus naheliegenden Gründen: "Im Kraftwerksbau wird Beton häufig verwendet, etwa bei Staumauern. Das Tolle ist, dass Ästhetik und Konstruktion eine Einheit sind, denn Fassade und Tragwerk sind deckungsgleich." Der Wunsch der Betreiber, flaches Licht auf die Arbeitsplätze zu vermeiden, kam dem zupass: Bei der Ost- und Westfassade ließ man die Fenster einfach weg. Beim Bauherrn sei zwar anfangs etwas Beton-Bewusstseinsbildung nötig gewesen, doch spätestens ein eigens angefertigtes Materialmuster zerstreute die letzten Tiwag-Zweifel.

"Nicht mit der Faust aufs Auge"

Das Brutalismus-Label wollen sich die Architekten ungern umhängen lassen. "Wir denken nicht in Terminologien", sagt Zaffignani. "Wir kennen und schätzen zwar die Beispiele aus der Architekturgeschichte, aber wir nähern uns jeder Bauaufgabe behutsam an, nicht mit der Faust aufs Auge."

Der Beweis: Bauherren und Bürgermeister waren begeistert - nicht zuletzt, weil ein Gebäude aus diesem einfachen Baustoff sich nicht dem Vorwurf der Protzigkeit aussetzt. Ob man es brutal nennt oder nicht: Der Weg zurück zum Beton ist geebnet.

Erschienen in: 
Der Standard, 21./22.2.2015