Das schöne Funkeln des Nutzlosen

Die millionenschwer erweiterten Swarovski-Kristallwelten boten drei Architektenteams Gelegenheit für facettenreiche Assoziationen

Es sind ja oft die kleinen Dinge im Leben, die wahre Freude machen. Das weiß jeder Glückwunschpostkartenversender und Spruch-Tassen-Verschenker. Das ist in der Architektur nicht anders. Ein spezielles, schrulliges Kapitel der Baugeschichte sind die Aufträge reicher Mäzene, etwas Kleines, Unterhaltsames auf ihren ausufernden Ländereien zu errichten.

Die englische Gartenkunst kennt ihre "Follies", architektonische Spielereien, exzentrische Kulissen in arkadischen Gärten, gerne als wilder Ritt durch die antike Baugeschichte nach Gusto des Finanziers. Auch italienische Residenzen kennen ihre Türmchen, und Schönbrunn hat seine Ruinenarchitektur. Das ist mal harmlos, mal albern, mal dilettantisch, doch manchmal treffen gerade die funktionslosen, romantischen Bauten ins emotionale Herz der Baukunst. "All art is quite useless", wusste schon Oscar Wilde.

Dem Schönen verpflichtet

Heute sind es die Pavillons, die Architekten sonst selten gewährte Freiheiten bieten: Der jährlich neu errichtete Serpentine Pavillon in London bietet eine begehrte Fingerübung für Architekten, die noch nie in Großbritannien gebaut haben und so eine Visitenkarte im Hyde Park hinterlassen können. Schwergewichte wie Zaha Hadid, Peter Zumthor und die Japaner von SANAA bekamen so mit Leichtigkeit ihren Fuß in die insulare Tür.

Mehr dem Schönen als dem Nutzen verpflichtet, haben diese kleinen Architekturen, die sich nicht um Normen und jahrelange Fachingenieurverhandlungen kümmern müssen, architekturgeschichtlich oft weitreichendere Folgen als mancher brav durchgeplante Bau. Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon 1929 war kaum mehr als eine Kulisse aus Wänden, Stützen und Decke, und wurde genau deshalb zu einer Ikone der Moderne.

Auch die im Tiroler Wattens ansässige Firma Swarovski ist dem Schönen und Ephemeren zugeneigt. Eine Welt ohne Swarovski-Kristalle würde, ganz unboshaft gesagt, vermutlich das Alltagsgeschäft der meisten Menschen nicht zusammenbrechen lassen - Radikalästheten wie Oscar Wilde ausgenommen. Und doch ziehen die Swarovski-Kristallwelten Besuchermassen aus 60 Ländern an, wie die Firma stolz vermerkt.

Wenn der moderne Mäzen Swarovski also dazu einlädt, den Assoziationen zum Thema Kristall freien Lauf zu lassen, sagen die Künstler nicht Nein. 1995, zum 100. Firmenjubiläum, war es André Heller, der mit der ihm eigenen Subtilität einen Riesen mit aufgerissenen Augen in die Inntalwiese und zusammen mit den dahinterliegenden "Wunderkammern" den schweren Grundstein für die Kristallwelten setzte. Mit messbarem Erfolg.

Mit Millionen zum Markenkern

20 Jahre später werden die Kristallwelten für 34 Millionen Euro auf das Doppelte vergrößert, und es ergeht die gleiche Einladung, diesmal an Architekten. Wie man jetzt, nach der Eröffnung Ende April, sieht, interpretieren diese das Kristalline auf weit abstraktere Weise. Durchaus im Sinne des Auftraggebers: "Die Architektur soll nicht einfach deskriptiv sein, sondern über den Unternehmensgegenstand hinausgehen. Nah am Markenkern, aber assoziativ", sagt Stefan Isser, Geschäftsführer der d.swarovski Tourism Services GmbH im STANDARD-Gespräch. Ziel der Erweiterung auf über sieben Hektar Fläche war, ganz funktionell-prosaisch, die Erhöhung der Besucherfrequenz auf 800.000 pro Jahr und der Besuchsdauer auf vier Stunden - unter anderem durch Angebote für Familien mit Kindern.

Die Lösung sollte diesmal von keinem Gesamtkünstler kommen, sondern entstand in einem Workshop aus drei Teams: Daniel Süß und Hanno Schlögl, die schon mehrere Swarovski-Shops gestaltet hatten, taten sich mit Johann Obermoser zu s_o_s architekten zusammen und waren als Fixstarter für die Neugestaltung des Eingangsbereichs und des Shops zuständig.

Wolke aus 800.000 Kristallen

Das künstlerische Konzept durften sich die jungen Landschaftskünstler Andy Cao und Xavier Perrot ausdenken, sie konzipierten eine Wolke aus 800.000 Kristallen über einer Wasserfläche, als luftigen Gegenpol zum erdschweren Heller-Riesen. Fehlte noch ein Büro von Weltrang als Aushängeschild. Die Entscheidung der Auswahljury fiel 2012 auf das norwegische Büro Snøhetta, das mit dem Opernhaus in Oslo und dem September 11 Memorial in New York in die weltweite Top-Liga geshootingstart war. Noch dazu sind sie nach einem mythischen norwegischen Berg benannt, also prädestiniert für alpine Bauaufgaben.

Das Resultat des Teamworks: eine Kollektion zurückhaltender Architekturen mit viel Platz dazwischen. Die "Wolke" von Cao Perrot ist aus statischen Gründen zwar weniger leicht geworden als angekündigt, aber sie erfüllt ihre Wahrzeichenfunktion, eingebettet in einen Park aus jungen Birken. Der Eingangsbereich von s_o_s greift diese Idee auf, der schlichte, leicht wirkende Flachbau mit auskragendem Betondach benutzt echte Birkenstämme als tragende Säulen, ein "White Forest", wie es Architekt Hanno Schlögl nennt. "Der alte Eingang war eine Betonbarriere" , erinnert er sich. "Wir wollten hier aufmachen, mit dem schwebenden Dach als einladender Geste." Kristall-Anspielungen fehlen hier völlig - mit Absicht.

Nicht zu platt

Auch beim von Snøhetta entworfenen Restaurant muss man die Kristalle mit der Lupe suchen, sie verstecken sich als winzige Intarsien in einer Deckenverkleidung aus Loden. Der Rest ist in kühlem Weiß gehalten, nur die Vorhänge vor den Panoramafenstern funkeln silbern-assoziativ. "Swarovski mit vielen Bildern behaftet", sagt Patrick Lüth, Leiter des Innsbrucker Snøhetta-Büros, "uns war es wichtig, das Thema Kristall nicht zu platt zu übersetzen."

Auch im zweiten Beitrag der Norweger sieht man die Anspielungen erst auf den zweiten Blick: Ein schmaler Turm aus 170 facettenartig gekippten, bedruckten Glasflächen, der aus der Wiese ragt. Dieser ist ausschließlich für die jungen Besucher reserviert.

Die Aufgabe, "irgendwas für Kinder" vorzusehen, lösten Snøhetta mit einer völlig neuen Typologie: dem Indoor-Spielplatz als Turmhaus. Hier darf mit Panoramablick herumgetobt werden, fern von brav-zertifiziertem Standard-Spielplatzmobiliar. "Wir haben extra keine Spielgerätehersteller gefragt, die sagen nur immer, was alles nicht geht", lacht Patrick Lüth, im obersten Turmgeschoß auf einem weitgespannten Netz wippend. "Es gibt hier auch nichts Interaktives und keine Technologie, es soll um das physische Erleben gehen."

Die an ihm vorbeifliegenden, trampolinhüpfenden und in einem zweigeschoßigen Seilgerüst hangelnden Kinder geben ihm recht. "Die Spielräume dürfen ruhig ein bisschen gefährlich wirken - das ist ein Ansporn für die Kinder", sagt der Architekt. Groß gedachte kleine Architekturen für die Kleinen: ein Beispiel, wie im schönen Funkeln des Nutzlosen etwas ganz Neues entstehen kann.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 16./17.5.2015