Der Streit zwischen Wolf Prix und David Chipperfield lässt vermuten, dass unsere Denkweise auch in globalisierten Zeiten noch lokal geprägt ist.
Es war irgendwann in der Mitte der 90er Jahre, als der damals frisch zum Jungstar avancierte Greg Lynn im Audimax einer deutschen Universität sein neuestes Projekt vorstellte. Lynn erklärte sein parametrisches Design, das durch in den Computer eingespeiste Umweltfaktoren, automatisch in permanenter Veränderung begriffene dreidimensionale Formen generierte. So etwas hatte man damals - Zaha Hadid hatte gerade mal ihr Vitra-Feuerwehrhaus vorzuweisen - noch nie gesehen. Der vollbesetzte Hörsaal lauschte fasziniert. Wie er nun auf die endgültige Form gekommen sei? Nun, erklärte Lynn fröhlich, er habe einfach in dem Moment auf "Stopp" gedrückt, in dem ihm die Form gefallen habe. Und genau so solle das nun auch gebaut werden.
Binnen Sekunden kippte das euphorische Schweigen der Studenten in entrüstetes Stimmengewirr. So willkürlich könne man doch nicht vorgehen. Ein System, ein Prinzip, das etwas wert war, müsse doch immer objektiv gleich funktionieren! Etwas schön finden, also! Das genüge doch nicht! Wenn das jeder! Gregg Lynn war amüsiert und verwirrt. Warum die Deutschen auch immer alles so ernst nehmen müssen, mag er sich gedacht haben.
Und hatte recht. Man kann wohl, bei aller Fragwürdigkeit der Lynn'schen Willkür, behaupten, dass sich hier beispielhaft der Unterschied zwischen angelsächsischem und teutonischem Denken aufzeigte. Dort das Trial-and-Error-Prinzip, die Mischung von Wissenschaftlichem und Persönlichem, die amerikanische Lust am Experiment und das britische, aus Jahrhunderten parlamentarischer Erfahrung destillierte muddling through. Auf der anderen Seite der ewige und ewig unerfüllbare Drang, immer alles richtig zu machen, der kategorische Imperativ, dass jedes noch so harmlose kleine Ergebnis die ganze Welt erklären müsse, und zwar in 100 von 100 Fällen.
Seitdem ist die architektonische Welt globalisierter geworden, und die global anerkannten, sofort verständlichen Formen verkaufen sich dank opulent gerendertem Wow-Content weltweit. Man könnte denken, die Zeiten solcher lokaler Missverständnisse sei vorbei. Doch selbst zwischen Österreich und Deutschland klaffen noch Unterschiede. Hierzulande interessiert die brave und fugenlose Normierung aller Eventualitäten made in Germany weniger, hier gilt vielmehr die theatralische Geste, die Performance, die Emotion, der Witz, die Persönlichkeit, die "geniale Idee".
Womit wir bei Wolf Prix wären. Dieser hat sich, wie jedem bekannt sein dürfte, anlässlich der Biennale Venedig ein kleines Scharmützel mit deren Kommissar David Chipperfield geliefert und die Architekturschau als banalen "teuren Totentanz" und ihr kompromissbereites Motto "Common Ground" als "schlimmer geht's nimmer" bezeichnet, als politisch zahnlose Selbstbeweihräucherung eines kleinen Architektenghettos. Chipperfield reagierte, weniger wütend, eher irritiert, ähnlich wie einst Greg Lynn. Bemerkenswert dabei war, dass er nicht etwa den Inhalt der Prix'schen Kritik aufgriff, sondern die Unhöflichkeit der Form, in der sie vorgetragen wurde - nämlich über die Presse, und nicht vor Ort in Person. Dass die Biennale nicht fehlerfrei sei, gab auch er zu, das sei sozusagen selbstverständlich.
Ob Prix mit seiner Kritik recht hat oder persönliche Scharten auszuwetzen hatte, sei dahingestellt. Zweifellos gibt es einiges zu kritisieren. Doch spielen nicht vielleicht selbst bei zwei welterfahrenen Architekten die vermeintlich abgelegten kulturellen Prägungen der Heimat hinein? Wird nicht ein kompromisserfahrener Brite wie Chipperfield von vornherein keine große Lösung von einer solchen Schau erwarten? Die Begegnung, der Austausch, die Diplomatie, die Suche nach dem Gemeinsamen, so lehrt die Geschichte des nüchternen Realismus von der Insel, führt langfristig eher zum Ziel.
Dass die Durchwurschtelparole des muddling through auch zu frustrierend kraftlosem Durchschnitt führen kann, zeigt die breite Masse der Architektur in Großbritannien. Andererseits resultierten diese Qualitäten in einem alle Aspekte des Bauens umfassenden Meisterwerk wie dem Neuen Museum in Berlin, wo für jeden Quadratzentimeter Terrazzo und für jedes kleine Einschussloch aus dem 2.Weltkrieg ein Common Ground gefunden wurde.
Man mag das Ganze als letztlich unbedeutenden Hahnenkampf abtun, der niemanden weiterbringt. Als Indikator für kommunikative Missverständnisse ist der venezianische Zankapfel jedoch ein Lehrbeispiel. Der Common Ground für Debatte ist offenbar weniger selbstverständlich, als man denkt. Ihn zu fordern und zu versuchen, deshalb um so nötiger.
(Kolumne "Planpause", erschienen in Der Plan, Zeitung der Architektenkammer Wien, Niederöstereich und Burgenland, Oktober 2012)