Fundamentale Nostalgie

Lektionen aus Venedig: Wenn es um die Zukunft geht, denken wir immer noch an die 60er Jahre. Denn selbst alte Utopien scheinen verlockender als die Gegenwart. 

Mehrstöckige Wohn- und Arbeitsmaschinen, kilometerlang über der Landschaft, modulartig angedockt an massive Betontürme. Es ist schon erstaunlich: Wenn Studenten heute mit ihren Entwürfen richtig visionär und futuristisch werden dürfen, greifen sie in der Regel entweder zur gemorphten Landschaft oder tief ins Repertoire der 1960er Jahre. Auch nach 50 Jahren scheinen die Bildnarrative von Superstudio, Archigram und den japanischen Metabolisten nichts von ihrer Faszination und Glaubwürdigkeit verloren zu haben. Auch wenn die Plug-in-Cities dieser optimistischen Zeit praktisch nie (oder nur einmal und dann nie wieder) eingepluggt wurden, projiziert man auch heute noch Zukunftshoffnungen in sie. Und sei es nur die Hoffnung, mit gebauter Architektur automatisch neue Gesellschaften und Menschen herbeizaubern zu können.

Anderntags, auf Feldforschung im nebligen Kagran, stiefelte man mit den Kuratoren der (sehr empfehlenswerten) Ausstellung "Guten Morgen Stadt" durch Gemeindebau-Großsiedlungen aus den 1960er und 1970er Jahren, die die Zeit erstaunlich gut überstanden haben, das Abstandsgrün mittlerweile zu einem veritablen Park mit mächtigem Baumbestand angewachsen, trotz aller Zeilenbauschmähungen der Fachwelt erstaunlich präzise dem damals gemalten Bild des offenen Stadtraums entsprechend. Entworfen aus einem Sinn für das soziale Zusammenleben genauso wie für den präzise praktischen Grundriss, und die Idee einer wachsenden Großstadt. Daneben zeitgenössischer Wohnbau, tortenstückig zwischen Feuermauern gequetscht, dem man ansieht, dass er auf das Auffüllen der maximal zulässigen Kubatur hin entworfen werden musste.

Wiederum anderntags auf der Biennale Venedig: Die Pavillons der Länder, die Rem Koolhaas' Anleitung gefolgt waren, ihre eigenes Verhältnis zur Moderne zu durchleuchten, erwiesen sich mit wenigen Ausnahmen als die lohnendsten. Im Gesamtbild der retroaktiven Nabelschau unter dem Leitbild "Absorbing Modernity" ergab sich ein Kaleidoskop der Weltverbesserung - manchmal naiv, manchmal gelungen, bisweilen gescheitert.

Großbritannien wucherte reichlich mit den Pfunden seiner neuen Garden Cities wie Milton Keynes, den Sozialsiedlungen in Manchester, sozialutopischen Yoga-Enklaven auf dem Land, Beatkapellen auf der Baustelle des Barbican Center. Popbunter Optimismus im Brutalismus, mit besten Intentionen. Deutschlands offener, demokratisch bescheidener Bungalowgrundriss für die Bonner Kanzler war der nüchterne Gegenpol; der japanische Pavillon brachte die mit Seufzen quittierte Erkenntnis, auf welch exakten und ernsten Analysen (tatamimattengenau kartographierte Dörfer!) die vermeintlich so global nivellierte und ortlose Moderne fußte.

Skandinavien exportierte seine humanistische Moderne nach Afrika, wo sie oft auf hohem Niveau scheiterte, und auch im französischen Pavillon wurden die dunkleren Seiten der hochfliegenden Pläne für die zukunftsfrohen Banlieues beleuchtet. Bei allen Licht- und Schattenseiten blieb doch die wehmütige Erkenntnis, dass seit damals nie mehr auf diese so ernsthafte Weise versucht wurde, das große Ganze zu erreichen.

Ganz nostalgisch ob solcher Zeugnisse des alles umfassenden Optimismus verließ man die "Fundamentals"-Biennale und kehrte zurück in das in pittoresker Morbidität eingefrorene Venedig, geborgen unter der Weltkulturerbekäseglocke, vor dem Adriahorizont obszön große Kreuzfahrtschiffe, hinter dem Adriahorizont, aber nicht sehr weit entfernt, die afrikanischen Flüchtlingsboote, all dies am Ende eines der globalpolitisch deprimierendsten Jahre seit langem, das alles daran zu setzen scheint, auch noch dem letzten Restoptimismus den Garaus zu machen.

Wieder zuhause, überfliegt man die 1715 Wettbewerbsentwürfe für das Guggenheim Helsinki, in denen so unbeschwert wie wahllos in allen Assoziationsschubladen gewühlt wird (Segelschiffe! Meereswellen! Holz! Nordlichter! Weil: Finnland!), um ein Bildnarrativ zu schaffen, das dann in inhaltsleere Form gerendert wird. Blobs, Knäuel und Schleifen, die beliebige Buzzwords illustrieren (Kontext, interaktiv, Spirit). Gesten statt Ideen, Behauptungen statt Analysen. Oder halt eben eine Art symmetrische Riesentröte in Primärfarben, deren "rational form with dialectical existence" den "architectural value of Helsinki" increast.

Genug gejammert. Wer weiß, vielleicht wird die Biennale im Jahr 2064 unter dem Titel "Absorbing Architektur des Spätkapitalismus" der heutigen Zeit Erkenntnisse abringen, von denen wir jetzt noch gar nichts wissen. Bis dahin darf man ganz nostalgisch den fundamentalen Optimismus der 1960er Jahre anzapfen. Kann ja nicht schaden.

 

 

Erschienen in: 
Kolumne "Planpause", der Plan, Zeitschrift der Architektenkammer Wien/NÖ/Burgenland, 1/2015