Zukunft ohne Masterplan

Unter dem Titel "Post City" zeigt die Ars Electronica Linz Ideen für die Zukunft der Städte zwischen Hightech und Lowtech

Eine geräumige silberne Blase auf Rädern, darin vier bequeme Sitze zum Durch-die-Stadt-Gleiten und Touchscreens an der Innenseite. Der F015 von Mercedes, ein Prototyp des fahrerlosen Autos, ist einer der Hingucker bei der diesjährigen Ars Electronica in Linz.

Dort steht das Gefährt recht sachlich in der Ausstellung "Future Mobility" herum, ganz ohne albernen Automobilmessen-Lasershowbombast. Im Gegeneil: Ruppiger Beton und gepresstes Altpapier bilden den atmosphärischen Rahmen für das Leitthema "Post City", denn heuer findet die Ars Electronica in den weitläufigen Hallen des ehemaligen Postverladezentrums am Bahnhof Linz statt, das 2014 nach kaum mehr als 20 Jahren aus Platzgründen aufgegeben wurde. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs – Poststadt, Stadt nach der Stadt, Stadt der Zukunft – liegt mehr als auf der Hand.

Eine zweite, unvorhergesehene Mehrdeutigkeit tat sich pünktlich zur Eröffnungswoche auf, als nur wenige Meter hinter dem Mercedes die Züge mit Flüchtlingen in Richtung Deutschland rollten, von Linzer Helfern spontan auf dem Bahnsteig mit Wasser versorgt. Eine ganz andere Art von "Future Mobility", die die Städte unserer Zukunft ebenso prägen wird wie Hochtechnologie.

Als hätte man dies geahnt, zeigt die Ars Electronica mit den Themen Future Mobility und Habitat 21 ganz bewusst die Spannweite von Hightech und Lowtech-Strategien für die Stadt der Zukunft. Einerseits die vom Büro formquadrat entwickelte schnittige Zwei-Personen-Flugdrohne D-Dalus und das Fahrrad "my.esel", das eine SMS an die Stadtverwaltung schickt, wenn es über ein Schlagloch fährt: Big Data als Schmiermittel für die reibungslose Metropole.

Improvisierte Stadt

Andererseits die Breitwandbilder des Projekts "Beyond Survival": Lukas Maximilian Hüller und Hannes Seebacher haben im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari, mit 100.000 Bewohnern eines der größten der Welt, mit den dortigen Kindern spielerische Bilder inszeniert, die deren Aneignung des Raumes zeigen. Kooperationspartner Kilian Kleinschmidt lud im Auftrag der Uno Stadtplaner ein, um das als Provisorium errichtete Camp als Stadt zu organisieren. Dazu braucht man erst mal keinen Beton und keine Kräne, sondern eine Idee für ein Gemeinwesen.

Mit welch einfachen Mitteln eine Stadt am Funktionieren gehalten werden kann und muss, zeigen Katja Schechtner und Dietmar Offenhuber mit "Manila Improstructure". Sie haben analysiert, wie in der philippinischen Hauptstadt die dem rapiden Stadtwachstum hinterherhinkende Infrastruktur mit Einfallsreichtum ergänzt wird. Da lehnt ein Solarpaneel an einem Plastikstuhl. Mit der daraus gewonnenen Energie wird die benachbarte Garküche betrieben. Wo die Straßenbeleuchtung fehlt – oder ein Marienschrein dringend illuminiert gehört -, werden die Lampen eben aus weniger wichtigen Straßenlampen an der Schnellstraße geschraubt. Die dort fahrenden Autos haben ja schließlich eh Licht.

"Diese Improvisationen sind eigentlich Hightech, aber eben im Lebenskontext einer asiatischen Megacity", sagt Katja Schechtner. "Es geht dabei nicht einfach nur um individuelle Bastelei, sondern um die Verbindung zwischen kleiner Nachbarschaft mit großem System. Zum Beispiel, wenn sich eine Community der Wasserträger oder Müllsammler formiert, die die Nachbarschaft mit der städtischen Infrastruktur verbindet."

Die Wahl des Themas sei auch als kritischer Kommentar zu den perfekten Technologievisionen der Smart Cities und als Plädoyer für die nicht minder intelligente Eigeninitiative der Bürger zu verstehen, deren Überlebenskünste gerade in den Megacities Asiens gebraucht würden, damit diese funktionieren, so Katja Schechtner. "Dieses Wissen kann auch in den Städten des Westens schnell wichtig werden, wenn eine Versorgungsinfrastruktur zusammenbricht."

Informationsquelle Mensch

Die Lektion daraus: Das städtische Leben lässt sich nicht so ordentlich vorausplanen wie ein Häuslbauerhaus. Waren die Architekten und Stadtplaner zu Zeiten großer Neuplanungen wie der mit einem Handstrich entworfenen Hauptstadt Brasília noch im Glauben, eine Stadt aus einem Guss in die Welt stellen zu können, ist man sich heute nur zu deutlich bewusst, dass das alles schon recht kompliziert ist.

Der Urbanist Roland Krebs, Dozent an der TU Wien und als Planer und Berater seit langem in Lateinamerika tätig, ist mit seinem Urban Design Lab auf der Ars Electronica vertreten. Er hat reichlich Erfahrungen mit der urbanen Realität jenseits vermeintlich einfacher Lösungen gemacht. "In Lateinamerika wissen die Städte nicht, wie sie Probleme lösen können, weil die Probleme zu komplex sind und die Beamten nur Planungsinstrumente aus dem letzten Jahrhundert haben. Die Planung kommt den schnell wachsenden Städten nicht hinterher, also lässt man alles schleifen."

Mit dem Urban Design Lab entwickelte Roland Krebs mit der TU und der Inter-American Development Bank eine Methode, wie man die Stadt in den Griff bekommen kann. Das simple Geheimnis: die Bevölkerung mit einbeziehen. In zehn Städten von Nicaragua bis Kolumbien wurde die Strategie angewendet. "Der Stadtplaner tritt hier nicht als Allwissender auf, sondern als Moderator, der den Input der Bevölkerung sammelt und erst am Schluss entwirft", erklärt Roland Krebs. "In Österreich bestellt die Politik einen Plan, die Bevölkerung ist glücklich oder nicht – und die Architekten wissen genau, was richtig ist. In Lateinamerika gibt es keine Masterpläne, aber viele junge, dynamische, gut ausgebildete Planer. Davon können wir lernen."

Dazu benötige man kein Hightech-Arsenal, man müsse nur den Leuten die richtigen Fragen stellen. "Es geht um den Menschen als wichtigste Informationsquelle, egal ob analog oder digital."

Ganz ähnliche Ziele verfolgt Andreas Henter. Mit seinem Linzer Büro TP3 Architekten und dem befreundeten spanischen Büro eddea arquitectura hat er das Open-Source-Werkzeug "city-thinking" entwickelt. Auch hier werden den Bürgern Fragen gestellt, die auch mal ins Poetisch-Überraschende kippen können. "Diese Art des Denkens, das auch Selbstverständlichkeiten infrage stellt, schafft ein Computerprogramm nie", sagt Henter.

Ein Beispiel für dieses Andersdenken: Als eine Zementfabrik bei Granada mit 100 Arbeitsplätzen ihre Tore schloss, planten die Behörden auf dem Areal Wohnungen. Die Architekten tp3 und eddea jedoch schauten sich um und analysierten. "Die Gegend ist voller Olivenbäume, die oft geschnitten werden müssen, wodurch reichlich Biomasse anfällt." Der Anfang eines Umdenkens oder, wie Andreas Henter es nennt, "eines Wunders": Statt Wohnungen entsteht auf dem Areal nun eine Fabrik für Holzpellets – mit 150 Arbeitsplätzen.

Mit einem Planer, der von Anfang an auf einer Idee beharrt, wäre das nicht geglückt, sagt Henter entschieden: "Das Wort Masterplan ist für mich ein Unwort!" Ob Granada, Manila, Jordanien oder der Bahnhof Linz: Die gänzlich undiktatorischen Planer von heute setzen auf Flexibilität und Entscheidungsstärke – und Lowtech steht Hightech an Intelligenz um nichts nach.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 5./6.9.2015