Zimmermann im Betonzeitalter: Der Architekt Vladimír Dedeček (1929-2020)

Ein überzeugter Europäer und ein virtuoser Bildhauer der Spätmoderne: Der gefeierte und umstrittene slowakische Architekt Vladimír Dedeček ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

Vladimír Dedeček war es nicht mehr gewohnt, Gäste zu empfangen. Dabei war der fragile, kleine Herr ausgesprochen höflich, geradezu galant, aber das Innere seines von ihm selbst entworfenen Reihenhauses am Stadtrand von Bratislava war leer und still, auf dem Esstisch stand ein extra für die Gäste aus Wien gekaufter Kuchen, der etwas verloren aussah.

Für uns, zwei Architekten und eine Architekturfotografin, war es ein großer Moment, an diesem Wochenende, damals im Jahr 2007. Ihn treffen zu wollen, sei chancenlos, hatte es monatelang geheißen. Er sei krank und verbittert, wolle niemanden mehr sehen. Irgendwie gelang es dann doch, und Vladimír Dedeček erwies sich vom Moment, als er die Tür öffnete, als ein liebenswerter Mann mit listigen Augen, der ein schönes Deutsch sprach und mit seiner zu großen Armeejacke wie ein greiser südamerikanischer General aussah.

Wir waren gekommen, um mehr über seine spektakulären Bauten aus den 1960er- und den 1970er-Jahren zu erfahren, und lernten schnell, dass nichts so einfach ist, wie man denkt. Dass das Planen im Sozialismus nicht von gleichgeschalteten Arbeitsbienen erledigt wurde, sondern von Individuen und Teams, die sich in Wettbewerben beweisen mussten, die debattierten und stritten und genau wussten, welche Theorien ihre Kollegen jenseits des Eisernen Vorhangs gerade entwickelten. "Es gibt keine sozialistische Architektur", sagte Dedeček mit Nachdruck. "Das ist Unfug! Nur die Fehler waren sozialistisch. Es gibt nur eine europäische Architektur, die sich aus denselben kulturellen Traditionen speist."

Missverständnisse wie diese verfolgten ihn mehr als seine Kollegen, da er sich mit seinen Großaufträgen auch mehr als sie exponierte. Seine wuchtigen Bauten wie das Nationalarchiv, eine Schule für Parteikader oder der Oberste Gerichtshof waren staatstragende Gebäude im Auftrag des Regimes gewesen, was ihm – auch wenn er kein Parteibuch hatte – den Ruf eines regimetreuen Architekten eintrug und ihn nach der Wende 1989 lange zur Persona non grata der slowakischen Architektenszene machte.

Doch auf den zweiten Blick offenbart seine Architektur eine Vielzahl von Bezügen, die weit über jedes politische System hinausreichten. Sein frühes Meisterwerk, der Campus der Landwirtschaftlichen Hochschule in Nitra (1960–66), eine elegante Komposition aus Scheiben, langen Glaspassagen, keck gekippten Hörsälen und einer Ufo-artigen Aula, erinnert an Oscar Niemeyers leichtfüßig-brasilianische Moderne und an Pier Luigi Nervis Palazzetto dello Sport in Rom, den Dedeèek auf einer seiner vielen Auslandsreisen besuchte. Auch dies eine Überraschung für die Besucher aus Wien: "Natürlich konnten wir in den Westen reisen, zumindest in den freien 1960er-Jahren", sagte er – auf Exkursionen nach Italien, Deutschland und sein geliebtes Frankreich, wo er kurz wegen Spionageverdachts festgenommen wurde. "Aber ich war natürlich kein Spion", sagte er. Und lächelte listig.

Heute, da "Socialist Modernism" zum Coffee-Table-Trend und als Soc-Mod durch die Blogs gereicht wird, haben seine ikonenhaften und fotogenen Bauten neue Bewunderer gefunden – aber auch neue Missverständnisse erzeugt. Mit dem heute oft wahllos verteilten Label "Brutalismus" haben sie kaum etwas zu tun, denn rohen Beton verwendete er äußerst selten. Die für ihn typischen Vor- und Rücksprünge, oft in den slawischen Farben Rot und Weiß akzentuiert, haben einen ganz anderen Ursprung: den traditionellen slowakischen Holzbau. "Ich bin ein Zimmermann im Zeitalter des Betons", so beschrieb sich Dedeček selbst, und besser kann man es nicht sagen. Was zunächst seltsam klingt, ist offensichtlich, wenn man es weiß: Die virtuos und skulptural ineinandergeschobenen Volumen seines kubisch in einem grünen Hang thronenden Slowakischen Nationalarchivs (1971–83) sind im Grunde ein übergroßes 3D-Puzzle aus Holzklötzen. Nur eben nicht aus Holz.

Sein berühmtester und zweifellos umstrittenster Bau liegt unübersehbar am Donauufer: die Erweiterung der Slowakischen Nationalgalerie (1962–79), deren Ausstellungstrakt als 70 Meter lange Brücke einen barocken Hof überspannt. Schon zu Entstehungszeiten als Fremdkörper kritisiert, ist sie genau das Gegenteil: eine Komposition aus Plätzen, Höfen und individuellen Gebäudetrakten, die sich genau in die Stadt einpasst. Ihr Fluch und Unglück war, dass sie ein Torso blieb und nur zur Hälfte realisiert wurde. Denn wie viele Bauten der Spätmoderne entstammten die Ideen dem freien Geist der 1960er-Jahre, der mit dem sowjetischen Einmarsch in Prag endete, und wurden in den 1970ern oder noch später fertiggestellt. Die ewigen Baustellen im Stadtzentrum machten sie bei den Bürgern nicht gerade beliebt.

Ironischerweise ist es gerade die Nationalgalerie, die ihm die ersten und die meisten internationalen Bewunderer beschert hat: Architekten wie Ben van Berkel und Wolf D. Prix lobten den Bau als europäisches Meisterwerk. Nicht zuletzt dank dieser Aufmerksamkeit entging der lange vernachlässigte Bau nach endlosen Debatten dem Abriss.

Auch in der Slowakei wandelte sich die Ablehnung später in Anerkennung: 2015 wurde ihm der Emil-Belluš-Preis für sein Lebenswerk verliehen, die höchste Auszeichnung der slowakischen Architektur. 2018 erschien Monika Mitášovás monumentale Monografie Vladimír Dedeček: Interpretations of his Architecture. "Ihn zeichneten die großen Formen aus, die er durch kluge Aufteilung und Wiederholung ent-monumentalisierte", so Mitášová in ihrem Nachruf. "Er hatte das Talent, Elemente der Antike wie Amphitheater und Atrien mit strukturalistischen Tendenzen zu kombinieren. Er lässt sich in keinen Ismus einordnen. Er verweigerte sich der Klassifizierung genauso wie dem Parteiapparat".

Es ist eine Tragik der Architekten aus ehemals sozialistischen Ländern, dass sie bis heute von der Geschichtsschreibung ignoriert werden. Einer, der sich unermüdlich für Dedeček einsetzte, ist der Wiener Architekturkritiker Jan Tabor, der 2015 das Happening "Dedeček for Pritzker Prize" veranstaltete. "Ich habe immer wieder Architekten in seine Nationalgalerie geschleift, und alle waren begeistert", sagt Tabor. "Er war schlicht und einfach der beste tschechoslowakische Architekt."

Ein Architekt, der das Humane über das Totalitäre stellte. Der das Individuelle im Kollektiven suchte und fand. Der das Monumentale, das Urbane und das Landschaftliche ebenso miteinander versöhnte wie das Industriell-Moderne mit dem Handwerklich-Archaischen. Vorige Woche ist Vladimír Dedeček im Alter von 90 Jahren gestorben, daheim in seinem stillen Haus.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 9.5.2020