Zersiedelung in den Reben

Steven Holls Loisium in Langenlois gilt als architektonisches Meisterwerk. Doch der Ort rückt immer näher. Ist die einzigartige Lage durch Zersiedelung gefährdet?

Es war ein so seltenes Ereignis, dass man es auch eine Singularität nennen konnte: Fachwelt, Laien und Besucher waren sich einmal einig, dass man es mit einem besonderen und großartigen Stück Architektur zu tun hatte. Vielleicht sogar ein Wunder, auf jeden Fall eine glückliche Fügung. Zwei lokale Weinbauernfamilien hatten den amerikanischen Architekten Steven Holl in die kleine Gemeinde Langenlois gelockt, und was Holl dort skizzierte und dann von 2003 bis 2005 mit seinen hiesigen Partnern Franz Sam und Irene Ott-Reinisch baute, war gleichzeitig ungewohnt wie ein gelandetes Raumschiff und tief im Ort verwurzelt. Eine Komposition aus Architektur und Weinbau in drei Teilen, "under, in and over the ground". Unter der Erde die Gewölbe der Weinkeller, in der Erde die Weinerlebniswelt als leicht verbeulter und zerschnittener Metallwürfel, und über der Erde das Hotel, dessen 82 Zimmer exakt über der Oberkante der Weinreben auskragen und in die sanfte Hügellandschaft des Kamptals blicken.

Heute ist das Loisium nicht nur ein überregionaler Besuchermagnet, es hat Langenlois auch einen kulturellen Schub versetzt – und spült nebenbei reichlich Gewerbesteuer in die Gemeindekasse. Fährt man heute durch den Ort, glaubt man gern, dass die Langenloiser glückliche Menschen sind. Eine für Weinbaugemeinden typische Grundzufriedenheit weht durch die Gassen, und selbst der sonst in Niederösterreichs Einfamilienhausgebieten grassierende grellfarbige Baumarktbarock ist hier kaum vertreten. Doch jetzt kommt das Glück von Langenlois wie ein langsamer Bumerang zum Loisium zurück. Schon kurz nach dessen Eröffnung wurde ein Wohngebiet westlich des Hotels in die Weinberge gebaut. Wer heute aus den Hotelzimmern im Norden und Westen schaut, sieht zwar immer noch sanfte Hügel – aber auch viergeschoßige Wohnblöcke in Orange, Weiß und Grau, nur wenige Rebenreihen entfernt.

Langenlois ist eine begehrte Wohnlage, ein Viertel der Erwerbstätigen pendelt ins nahe Krems. Während Krems praktisch kein neues Bauland ausweist, gibt Langenlois dem Druck nach. 2017 wurde das Gebiet Lange Sonne Nord umgewidmet: Viereinhalb Hektar Weinberg werden bebaut, einen Steinwurf vom Loisium entfernt. Für die Bebauung wurde ein Gutachterverfahren mit vier Büros ausgelobt, das Ergebnis wurde Ende Juni bekanntgegeben.

Noch vor dem Ende des Verfahrens flatterte den Auslobern ein Brief von Erich Raith, Professor für Städtebau an der TU Wien, ins Haus. Die Worte waren mehr als deutlich. "Es ist für mich völlig unverständlich, wie man eine Verbauung der Lange Sonne Nord in Langenlois ernsthaft ins Auge fassen kann. Die beeindruckend stimmige Dramaturgie der Raumsequenz würde durch jede weitere Bebauung, die sich zwischen den Hotelbau und die anschließende offene Weinlandschaft schiebt, nachhaltig zerstört werden", so Raith. "Es entsteht der Eindruck: Kaum gibt es in Niederösterreich ein zeitgemäßes Weltklasseprojekt, wird es von den Banalitäten einer alltäglichen Planungs- und Baupraxis eingeholt und in weiterer Konsequenz zerstört."

In Langenlois sorgte der Brief für Irritation – und eine Einladung zur Ortsbeschau und Diskussion. Man tauschte unterschiedliche Positionen aus, die am Schluss unterschiedlich blieben. "Es war uns bewusst, dass die Bebauung zu Diskussionen führen würde", sagt der für Raumordnung zuständige Gemeinderat Stefan Nastl (VP) zum STANDARD. "Deswegen haben wir Geld in die Hand genommen und mit Unterstützung des Landes Niederösterreich und Experten ein Gutachterverfahren gestartet." Man habe es sich nicht leichtgemacht, aber Langenlois sei eine Zuzugsgemeinde mit starkem Siedlungsdruck, die Baulandreserven seien begrenzt – und die viereinhalb Hektar als "letztmalige Erweiterung" zu verstehen.

"Es war sicher ein Fehler, die Wohnblöcke so nahe ans Loisium zu lassen" , räumt auch Nastl ein. Für die Lange Sonne Nord will man daher niedrig bleiben: Einfamilienhäuser, Doppelhäuser, Reihenhäuser und Gartenhofhäuser sind geplant – auch um die Sichtkorridore des Loisium freizuhalten. Erich Raith wiederum bleibt im Gespräch mit dem STANDARD bei seiner Ablehnung: "Langenlois hat im Ortskern genug Potenzial zur Nachverdichtung. Man muss dafür kein neues Bauland ausweisen." 20 Hektar Land werden jeden Tag in Österreich verbaut, damit ist man trauriger Europameister. Die 2017 beschlossenen baukulturellen Leitlinien des Bundes schreiben eine sparsame Flächenentwicklung vor. Sind die viereinhalb Hektar Neubauland in Langenlois also ein Anachronismus? Und ist das Loisium durch die herandrängende Wohnbaurealität in seiner Einzigartigkeit gefährdet?

"Ja, absolut", sagt Architekt Franz Sam, der für das Land Niederösterreich in der Jury des Verfahrens saß und auch die Interessen der Betreiberfamilie des Loisium vertritt. "Viele Besucher aus dem Ausland kommen nur wegen der Architektur von Steven Holl nach Langenlois. Das ist noch nicht bei allen in der Gemeinde angekommen." Die jetzt geplante Bebauung kratze zwar nur am Sichtfeld des Loisiums, aber mit jeder weiteren Bautätigkeit im Sichtkeil wäre die Schmerzgrenze überschritten. "Ein Neubau an dieser Stelle muss zumindest eine hohe Qualität haben. Das ist bei den bisher entstandenen Wohnblöcken nicht der Fall." Wurden die Interessen das Loisium von der Gemeinde beim Verfahren berücksichtigt? "Ja, die Rahmenbedingungen waren in Ordnung", sagt Franz Sam, "allerdings wird jetzt eine Mischung aus zwei Entwürfen umgesetzt, und niemand weiß genau, wie das aussehen wird."

Stein des Anstoßes sind hier insbesondere die vorgesehenen Gartenhofhäuser – eine niedrige und kompakte Typologie, wie sie Roland Rainer in Siedlungen wie Puchenau bei Linz perfektionierte. Dieser "verdichtete Flachbau", wie es im Fachjargon heißt, wird bis heute aufgrund seines sparsamen Platzverbrauchs immer wieder als Alternative zum freistehenden Einfamilienhaus vorgeschlagen. Laut Stefan Nastl soll etwa ein Drittel der Langen Sonne Nord mit Gartenhofhäusern bebaut werden. "Mir ist klar, dass viele sich einen höheren Anteil und mehr Innovation wünschen, aber wir werden als ländliche Gemeinde gesehen. Das heißt, es gibt eine gewisse Erwartung, was das klassische Einfamilienhaus betrifft." Zumindest habe man für die freistehenden Häuser die Grundstücksflächen auf ein Minimum von 500 Quadratmetern begrenzt. Der Verkauf der Grundstücke soll nach der Erstellung des Bebauungsplans voraussichtlich im Herbst beginnen. Danach klärt sich, ob das architektonische Niveau im Umfeld des Loisium nach oben oder unten korrigiert wird.

Noch kann man vom Hotelzimmer aus, wenn man in die richtige Richtung schaut, in die unberührte Weinbergidylle träumen und die niederösterreichische Realität am Rande des Sichtfeldes ignorieren. Noch ist der Wermut im Weinglas nur ein Tropfen. Die Frage, ob und wie ein Ort in Zeiten des Flächenfraßes wachsen darf und soll, muss dringend diskutiert werden – nicht nur in Langenlois.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 04./05.08.2018