Wie wir wohnen wollen: Zum Tod von Harry Glück

Er war einer der produktivsten und umstrittensten Architekten Österreichs. Sein Wohnpark Alt-Erlaa in Wien, einst als "Betonburg" beschimpft, gilt heute vielen als vorbildhaft.

18.000 Wohnungen: Damit könnte man eine veritable Kleinstadt errichten. Eine Aufgabe, die kaum ein Architekt als Lebenswerk vorweisen kann. Harry Glück, der jetzt im Alter von 91 Jahren verstorben ist, konnte das. Zwar baute er keine komplette Stadt aus dem Nichts, sondern nur einzelne Wohnanlagen, dennoch ist die Zahl auch heute noch unglaublich. Alleine sein wohl berühmtestes Werk, der Wohnpark Alt-Erlaa (Bauzeit: 1973–1985), dessen massive Riegel wie Schiffe im Wiener Süden in den Himmel ragen, beherbergt rund 9000 Bewohner.

Der Wohnpark ist bis heute, ebenso wie sein Architekt, in gleichem Maße geschätzt wie umstritten. Seinerzeit als "Betonburg" tituliert, hat sich Alt-Erlaa aller Kritik zum Trotz als beliebte Wohnlage erwiesen: Seine Bewohner schätzen die dicht begrünten Balkone, die Schwimmbäder auf dem Dach, die Gemeinschaftsräume und Einkaufsmöglichkeiten im Haus. Das Wohnen in der Stadt mit den Vorzügen der Natur zu kombinieren war eines der zentralen Anliegen Harry Glücks. Wer eine grüne Terrasse hat, braucht am Wochenende nicht aufs Land zu fahren, so sein Credo. Die Pools auf dem Dach, die er bei zahlreichen seiner Wohnanlagen errichtete, sah er als bewussten Transfer einer Luxusausstattung hin zum "gemeinen Volk".

Das brachte ihm seinerzeit einiges an Kritik ein: "Ich wurde von rechts angegriffen, weil ich den Luxus an die Proleten verschwende, und von links, weil ich es den Leuten zu gemütlich mache und sie den revolutionären Schwung verlieren", resümierte er 2013. Doch nicht nur die vermeintliche Verschwendung wurde ihm angekreidet. Auch die Massivität seiner Bauten geriet unter Beschuss, galten die Wohnmaschinen der Spätmoderne doch schon ab Ende der 1970er weltweit als unmenschlich und technokratisch. Dass die meisten seiner Bauten viele Fehler vermieden, die andere Wohnblocks jener Zeit tatsächlich zum Niedergang verdammten, wurde oft übersehen.

Nicht zuletzt wurde ihm von Kollegen seine stets gute Auftragslage übelgenommen, er galt als gutverdienender Technokrat mit Naheverhältnis zur Baugenossenschaft Gesiba. Die Kränkung aufgrund dieser jahrzehntelangen Kritik war ihm noch im hohen Alter anzumerken, auch wenn jüngere Generationen von Architekten seinem Werk heute weitaus positiver gegenüberstehen.

Geboren 1925 in Wien als Sohn eines Bankbeamten und einer Schneiderin, studierte Glück zunächst Bühnenbild und Regie am Max-Reinhardt-Seminar, bevor er zum Architekturstudium an die Technische Hochschule Wien wechselte. Seine Laufbahn begann er beim Altmeister Josef Hoffmann. 1966 gründete er sein eigenes Büro und spezialisierte sich schnell auf den Wohnbau.

Der von ihm mitentwickelten Typologie der Terrassenhäuser wie in der Inzersdorfer Straße (1974) blieb er mit wenigen Abwandlungen sein Leben lang treu. Wie er selbst betonte, schätzten seine Auftraggeber auch die bautechnische Effizienz seiner Konstruktionen, eine Qualität, die ihn in den Augen seiner avantgardistischen Altersgenossen, die an der Akademie studiert hatten, suspekt machte. Neben den zahllosen Wohnanlagen errichtete er auch weniger bekannte, aber lukrative Infrastrukturbauten für die Stadt Wien, etwa das heute dem Abriss geweihte Rechenzentrum an der Zweierlinie (1980) – ein Schicksal, das der Architekt selbst damals mit sachlichem Gleichmut kommentierte. Dass Harry Glück auch gegen stilistische Moden nicht ganz immun war, zeigt sein 1986 am Parkring errichtetes Hotel Marriott mit seiner heute deplatziert wirkenden postmodernen Verspieltheit.

Sein Büro, das zur Blütezeit seiner Karriere rund 100 Mitarbeiter umfasste, gab er Ende der 1990er-Jahre auf, blieb aber trotz körperlicher Gebrechlichkeit bis ins hohe Alter aktiv, beteiligte sich gemeinsam mit Partnerarchitekten unermüdlich an Wettbewerben und realisierte solide Wohnbauten, etwa am Mühlwasser in Stadlau. Die Anerkennung, die ihm so lange verwehrt blieb, erlangte Harry Glück erst rund um seinen 90. Geburtstag. Anfang 2015 wurde ihm das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien verliehen, und der Publizist Reinhard Seiß ehrte ihn mit einer umfassenden Monografie. Die 18.000 Wohnungen bleiben als würdiges Denkmal seines Wissens und Wirkens.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 15.12.2016