Jean Nouvels Hotelturm am Wiener Donaukanal treibt ein ambitioniertes Vexierspiel mit Volumen und Flächen
Wien, um 1900. Im Hotel Continental in der Praterstraße 1 sitzt der Schriftsteller Theodor Herzl im Café und erledigt seine Post. Das Continental gilt als eines der nobelsten und modernsten Hotels der Stadt, Treffpunkt des Wiener Bürgertums in der jüdisch geprägten Leopoldstadt. Das jüngste in einer Reihe von Hotels an dieser Stelle, wo die Straße nach Böhmen den Donaukanal überquert.
Ein Jahrhundert später an exakt derselben Stelle: Zwei bürgerliche Damen recken die Hälse nach oben, über ihnen blubbert eine weibliche Figur in einer LED-Blase durch eine bunte Unterwasserwelt. Unmittelbar über der submarinen Fauna: das neueste und modernste Hotel der Stadt anno 2010.
Was war in der Zwischenzeit passiert? Im Zeitraffer: Nach dem Zweiten Weltkrieg liegt das Hotel Continental in Trümmern, an seiner Stelle errichtet Georg Lippert 1961 die Zentrale der Bundesländer-Versicherung. Mit seiner vorgehängten Fassade gilt sie als modernstes Bürohaus Österreichs.
Zum Ende des Jahrhunderts wird der Donaukanal nach langem Dornröschenschlaf als begehrenswerte Innenstadtlage wiederentdeckt: 1995 schreibt die Generali auf dem Nachbargrundstück einen Wettbewerb für ein Bürogebäude aus, den heutigen Media Tower. Sieger Hans Hollein fügt mit überzeugender Leichtigkeit die heterogenen Elemente der Umgebung wie aus einem Baukasten zu einer stimmigen Collage zusammen. Unter den leer ausgegangenen Architekten: Jean Nouvel. Währenddessen wird dem frisch fusionierten Versicherungsgiganten Uniqa der Lippert-Bau zu klein, man baut sich einen eigenen Tower ein paar Meter unterhalb des Kanals. Uniqa-Generaldirektor Herbert Schimetschek erinnert sich: "Es war ein innovatives Gebäude, aber der technische Standard auf Dauer unzureichend. Wir haben damals sozusagen den ganzen 2. Bezirk mitbeheizt."
Der Altbau wird abgerissen, an seiner Stelle soll ein Mix aus Hotel, Einkaufszentrum und Restaurants das städtische Leben am Donaukanal bereichern. Für das Hotel mit 182 Zimmern wurde die französische Nobelkette Sofitel gewonnen, für die 6000 Quadratmeter Shopping-Center das Hamburger Designkaufhaus "Stilwerk". Wieder nehmen Hollein und Nouvel am Wettbewerb teil, dieses Mal geht der 1. Preis an Nouvel.
Ein Tor aus "Fast-Nichts"
Nach dreijähriger Bauzeit wurde der 140 Millionen Euro teure Bau diese Woche eröffnet. Er zeigt sich sowohl als Ergänzung, als auch Gegenstück zum Media Tower. Zur Stadt hin balanciert der Hoteltrakt wie ein erratischer Block auf dem fünfgeschoßigen, schräg angeschnittenen Sockel.
Zur Taborstraße hin geneigt, spiegelt der 75 Meter hohe Bau die Hollein'sche Schräge - wie ein Zeichen beiderseitiger Zuneigung. "Ich wollte eine Symmetrie schaffen, so bilden die beiden Gebäude ein Tor", so Nouvel. Und damit enden die Gemeinsamkeiten. Während Hollein sich ganz der Inneren Stadt zuwendet, zeigt Nouvels Bau wie ein doppelter Januskopf in jede Richtung ein komplett anderes Gesicht. "Das Wesen dieses Gebäudes ist ein Fast-Nichts" sagt Nouvel. "Die Fassaden sind nur auf Grau, Weiß, Schwarz und Transparent reduziert - je eine Farbe für jede Himmelsrichtung."
Zur Stadt hin zeigt sich der gläserne Bau mit bleiernem, den Himmel zart reflektierenden Grau undurchdringlich, fast abweisend, während sich die transparente Nordfassade mit ihrem feingliedrigen Sprossengeflecht zur Leopoldstadt hin komplett öffnet. Die Schmalseite zur Praterstraße wurde weiß verspiegelt, die zur Taborstraße kleidet sich in edles Schwarz. Auf den schrägen Dachflächen des Sockels wiederum bildet das Glas großflächige Parallelogramme - "ein Dialog über die Distanz mit dem Rautendach des Stephansdoms", wie Nouvel erklärt. "Ein Hotel ist immer auch Teil der Stadt. Es darf nicht immer nur nehmen, es muss auch etwas geben, es muss die Stadt bereichern."
Auch die Hotelzimmer passen sich der jeweiligen Fassade an und sind - je nach Himmelsrichtung - monochrom in Weiß, Grau und Schwarz gehalten. Darin: keine der sonst üblichen Bilder an den Wänden, stattdessen die zarten, fast unsichtbaren Bleistiftzeichnungen der Künstler Alain Bony und Henri Labiole. Nichts soll vom Blick auf die Stadt ablenken: "Durch Schiebeelemente vor den Fenstern kann man sich die Landschaft selbst rahmen, so wird man auf symbolische Art Teil der Stadt", sagt der Architekt.
Fliegener Teppich aus Licht
Am spektakulärsten zeigt sich das Gebäude bei Dämmerung und bei Nacht - hier wandelt sich das "Fast-Nichts" zu einem leuchtend farbigen Etwas: Die Decke des 220 Personen fassenden Restaurants Le Loft im 18. Stock schwebt wie ein fliegender Teppich im Wiener Himmel. Gestaltet hat die Lichtinstallation die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist, ebenso wie jene im verglasten Wintergarten, im keilförmigen Leerraum zwischen Sockelbau und Hoteltrakt.
Hier trifft das klerikal inspirierte Schrägdach im spitzen Winkel auf die Unterwasserwelt an der Unterseite des Turms. Vier Balkone ragen in den Raum hinein. Nur einer ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Schon in den ersten Tagen drängen sich "Stilwerk"-Besucher auf engem Raum, um die über ihnen schwebenden Fische zu bestaunen.
Für dieses Schweben war ein großer bautechnischer Aufwand nötig: Die bis zu 14 Meter hohe, filigrane Glasfassade, die den Wintergarten umschließt, ist enormen Kräften ausgesetzt. Um diese abzufangen, messen computergestützte Sensoren die Belastung der Stahlseile und halten diese in der richtigen Position.
Die zweite knifflige Aufgabe: Nur zwei schlanke verspiegelte Stützen tragen die 13 Hotelgeschoße auf dieser Seite. Um die Lasten abzufangen, musste eine 1600 Tonnen schwere Stahlkonstruktion, die die Stützen mit dem tragenden Stiegenhauskern verbindet, in Millimeterarbeit in Position gebracht werden. "Der Wintergarten ist eine wichtige Schnittstelle zwischen innen und außen", sagt Johann Prost, Projektleiter des ausführenden Wiener Büros Neumann +Partner, in der parallel zur Eröffnung erschienenen Buchpublikation. "Doch was so einfach aussieht, ist in Wirklichkeit ein immenser technischer Aufwand." Ein Widerspruch zwischen der Auflösung in Flächen und der Masse des Bauwerks: ein 54. 000 Tonnen schweres "Fast-Nichts"?
"Die Massivität des Bauwerks war unvermeidlich", sagt Nouvel, "deshalb habe ich begonnen, mit dem Volumen zu spielen." Doch die spielerische Verkleidung des Volumens mit reflektierenden und leuchtenden Flächen wirkt vor allem aus der Distanz, eine entmaterialisierte Exklusivität.
Kleiner Trost: Wem diese filmische Dominanz des Visuellen zu stark wird, der kann sich ins Restaurant Neni flüchten, das mit völlig spiegelungsfreiem Eichenholz eine Oase der warmen Haptik im Erdgeschoß ist.
(erschienen in DER STANDARD, 18./19.12. 2010)