Stuttgart an einem schönen Spätsommerabend. Die Cafés sind voll besetzt. Man entspannt sich beim Feierabendbier, als plötzlich eine junge Frau herbeistürmt und ruft: “Kommt schnell, die Bagger sind da! Sie reißen den Bahnhof ab!”
Viele folgen ihr - und stoßen vor Ort auf eine aufgeregte Menschenmasse, auf Tieflader mit Bauzäunen, auf Polizisten, auf Sitzblockaden. Wenige Tage später beginnen die Bagger, den Nordflügel des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs abzureißen. Was danach folgt, ist bekannt: Die Proteste eskalieren, die bislang nur lokale Debatte erfasst das ganze Land, man redet sich die Köpfe heiß über Tunnel, Milliarden und demokratische Werte.
Zur gleichen Zeit, ein paar Hundert Kilometer weiter: In Wien wird feierlich das “Bahnorama” eröffnet. Neugierige Bürger erklimmen den brandneuen, 66 Meter hohen Holzturm und bestaunen die Baustelle ihres Hauptbahnhofs, auf der bereits eifrig gebaggert und betoniert wird. Im angeschlossenen Infocenter geben Diagramme und Visualisierungen Aufschluss über das Großprojekt. Ombudsman Peter Guggenberger kümmert sich um die Sorgen der Bevölkerung: “Die meisten beschweren sich über Lärm, Staub und Baustellenverkehr. Bisher haben wir alle Probleme gelöst.” “Stuttgart21” verfolge man zwar mit Interesse, so Bahn und Stadt unisono, die Situation sei jedoch eine völlig andere.
An Sinn nicht gezweifelt
Auf den ersten Blick mag das stimmen. Denn anders als in Stuttgart wird der Sinn eines Durchgangsbahnhofs hier von niemandem in Zweifel gestellt. Gemeinsamkeiten gibt es aber trotzdem. Beide Bahnhöfe sind Teil der “Magistrale für Europa” , der EU-geförderten Nachfolgerin der legendären Orientexpress-Strecke. In beiden Fällen werden die Bahnhofsbauten mit der Errichtung ganzer Stadtviertel kombiniert. Die Verkaufserlöse aus den Grundstücken sollen die Projekte mitfinanzieren.
Während Stuttgart21 wegen der immensen Kosten mehrmals kurz vor dem Aus steht, wird im Bahnhofsturm gleich zu Beginn ein permanentes Infozentrum eingerichtet. Anfang 2010 schließlich folgt der Spatenstich für den von Christoph Ingenhoven geplanten Bahnhofsbau, hervorgegangen als Siegerprojekt aus einem offenen, internationalen Wettbewerb mit 126 Teilnehmern. Die offiziellen Baukosten für das Gesamtprojekt betragen 4,1 Milliarden Euro. Experten und Kritiker rechnen mit weit mehr.
Schauplatzwechsel: Als Verbindung zwischen den bisher getrennten Ost- und Südbahnstrecken in Wien wird 1994 ein Wettbewerb für einen neuen Durchgangsbahnhof ausgeschrieben. Da sich Stadt, Bund und Bahn über die Finanzierung nicht einig werden, verschwindet der siegreiche Enwurf des Schweizer Architekten Theo Hotz in der Schublade.
Architektur im Kombipaket
Kurz nach der Jahrtausendwende dann der zweite Anlauf. 2004 wird ein nicht offenes Expertenverfahren zur Bebauung des Gesamtareals ausgeschrieben. Unter den zehn geladenen Büros werden zwei Sieger gekürt: Albert Wimmer und das Planerteam Hotz und Hoffmann. Obwohl es in diesem Verfahren ausschließlich um die Stadtplanung geht, wird die Bahnhofsarchitektur praktischerweise gleich mitgeliefert.
Die einzige Vorgabe der Auslober: “Das Terminal soll eine eigene Identität besitzen und aus allen Richtungen identifizierbar sein.” Viel wichtiger scheint in diesem Zusammenhang die Hauptforderung der ÖBB, dass Einzelhandel und Bahnhof eine unbedingte Einheit zu bilden hätten.
“Ein Bahnhof ist primär ein funktionales Gebäude, weniger eine architektonische Herausforderung” , heißt es dazu lapidar seitens der ÖBB-Pressestelle. Nun denn. Die Bahn ist ja auch nicht für Architektur zuständig, sondern primär für eine reibungslose Infrastruktur.
Doch auch im Büro von Planungsstadtrat Rudolf Schicker - hier würde man sich Engagement in Sachen Architektur erwarten - verweist man darauf, dass im Zuge des Wettbewerbs “ja eh auch die Ausführung des Hauptbahnhofs” mitübertragen worden sei. Ist der Bahnhof der Zukunft, um mit den Worten von ÖBB-Manager Norbert Steiner zu sprechen, also “nur ein Dach” mit angeschlossenem Einkaufszentrum?
“Früher waren die Bahnhöfe Kathedralen für den Verkehr” , sagt der Wiener Stadtplaner und Publizist Reinhard Seiß. “Davon sind wir heute weit entfernt.” Und Sabine Gretner, Planungssprecherin der Wiener Grünen, wundert sich: “So einen Bahnhof baut man einmal in hundert Jahren. Das ist die Visitenkarte der Stadt. Offensichtlich wurde der Hauptbahnhof hier unter dem Deckmantel der reinen Infrastruktur abgehandelt.”
Kostenexplosion von Rechnungshof abgemahnt
Mehr Fragen als Antworten bot auch der Eiertanz um den sogenannten “Automatic People Mover” . Nachdem der Rechnungshof die Kostensteigerung, den fragwürdigen Sinn eines neuen Transportmittels parallel zum Gürtel und die Verflechtung des Bestbieters mit handfesten Immobilieninteressen scharf kritisiert hatte, wurde das Projekt wieder fallengelassen. Laut dem Büro des Planungsstadtrats ist das Ding vom Tisch. Auch von der anfangs geplanten Anbindung der erweiterten U2 ist keine Rede mehr. Stattdessen soll nun - dazu sind die ÖBB vertraglich verpflichtet - die Schnellbahn-Station Südbahnhof, wie man vernimmt, “ertüchtigt” werden.
Auch die Kostenexplosion des Gesamtprojekts wurde vom Rechnungshof deutlich abgemahnt. Die Investition der Stadt für die Infrastruktur hat sich zwischen 2007 und 2009 verdoppelt. Während in Stuttgart die Massen aus Sorge um ihre Steuergelder auf die Straße strömen, um zu protestieren, bleibt man in Wien ruhig und gelassen.
Liegt das etwa an der aufwändigen Informationspolitik der ÖBB, die neben “Bahnorama” und Ombudsman auch Arbeitsgruppen, Bezirksforen und sogar eine eigene Website eingerichtet hat? Reinhard Seiß sieht die Ursachen in der unterschiedlichen Mentalität: “In Deutschland herrscht ein ganz anderes Engagement bei stadtplanerischen Themen. In Wien ist das der breiten Bevölkerung aber wurscht. Und das geht Hand in Hand mit dem feudalen Selbstverständnis der Politik.”
Kann man in Wien also tatsächlich von oben nach unten planen, ohne dabei Widerrede zu kassieren? Gretner: “Gegen die Flächenwidmung beim Hauptbahnhof hat es weniger Einsprüche gegeben als bei der Kleingartenanlage Hackenberg.”
Lieber konzentrieren sich die Wiener auf die Nebenschauplätze. Nachdem die ursprüngliche Bezeichnung “Bahnhof Wien Europa Mitte” nur Spott und Hohn geerntet hatte, wurde die Bevölkerung damit vertröstet, dass noch ein eigener Namenswettbewerb folgen werde. Heute heißt das Projekt schlichtweg “Wien Hauptbahnhof” . Ohne Wettbewerb, versteht sich. Und ohne Protest.
(erschienen in der Standard, 16./17.10.2010)