Wertewandel im Weltkulturerbe

Ein Bau aus dem 19.Jahrhundert im Zentrum von Krems soll einem Neubau weichen. Die Gründe klingen wirtschaftlich logisch, doch sind sie es wirklich? Und warum haben sich Fridays for Future unter die Abbruchgegner eingereiht?

Das begeisterte Ausrufezeichen hatte sich der Graveur nicht verkneifen können. „Erbaut im Jahre 1876!“ prangt es auf dem Sockel im Stiegenhaus. In der Tat platzierte sich der wuchtige Bau mit Präsenz in die verwinkelte Kremser Altstadt. Errichtet von der Sparkasse, beherbergte er lange ein Postamt. Die Stuckfassade wurde 1934 entfernt, in den 1970er Jahren versuchte man eine malerische Rekonstruktion, die später unter Wärmedämmung verschwand. Das Innere: Solide Substanz, Terrazzoböden und Schmiedeeisen, Lifte vom Dachausbau Ende der 1990er Jahre. Wohnungen, Arztpraxis, Kosmetik, Fahrschule. Eine gute städtische Mischung.

Krems rühmt sich seiner historischen Substanz, und das zurecht. 1975 war es Modellstadt für Denkmalpflege, seit 2000 besteht das UNESCO-Welterbe Kulturlandschaft Wachau. Die Altstadt ist ein praktisch geschlossenes historisches Ensemble, das keineswegs museal wirkt. Noch etwas schöner wäre es nur ohne Autoverkehr.

Doch dieser dürfte bald zunehmen. Denn die SK Immobiliengesellschaft, Tochter der Kremser Bank und Sparkassen AG, mag ihr Haus in der Sparkassengasse nicht mehr so gerne. Es sei „in die Jahre gekommen,“ heißt es. Was sonst im Weltkulturerbe für Schutzwürdigkeit steht, nämlich das in-die-Jahre-gekommen-Sein von Gebäuden, ist hier Argument für den Abbruch. Stattdessen plant man einen Neubau mit 110-Betten-Lifestyle-Hotel und Ladenflächen im Erdgeschoss. 15 luxuriöse Dachgeschosswohnungen sollen die 24 bestehenden Wohnungen ersetzen, eine zweigeschossige Tiefgarage mit 150 Stellplätzen, davon 100 für die Öffentlichkeit, die ewigen Kremser Parkplatzdebatten beenden. Ein Architekturwettbewerb startete im Herbst, das Ergebnis wird in den nächsten Wochen vorliegen.

Zeichen des Umdenkens

Den Protest gibt es schon jetzt. Fridays for Future Krems startete kürzlich eine Petition gegen das Projekt. Ihr Argument: „Der Abriss dieser Bausubstanz, der damit einhergehende Verlust von leistbarem Wohnraum, die Auflösung eines sozial starken Netzes und einer authentisch belebten Innenstadt kann nicht im öffentlichen Interesse sein“. Auch die Tiefgarage nicht, denn ein Mobilitätskonzept für eine Stadt, die 2030 „die lebenswerteste Kleinstadt im gesamten Donauraum“ sein will, sehe anders aus. Zu den zehn Fridays-Forderungen zählt eine Stadtentwicklungspolitik, die im Einklang mit den nationalen und internationalen Klimazielen steht.

Moment mal: Kümmern sich Fridays for Future neuerdings um Fragen von Architektur und Bausubstanz? Ja, und man kann dies als Zeichen eines Umdenkens sehen, der auch die Architektenschaft bewegt. Jahrzehntelang galt, dass die Schutzwürdigkeit eines Gebäudes vor allem von Fassade und künstlerisch-historischer Einzigartigkeit abhing, weniger von seinem Innenleben und Substanz. Doch angesichts der globalen Ressourcenverschwendung wird zunehmend der Wert des Materials an sich erkannt und sehen heute viele den stetigen Zyklus von Komplettabriss und Komplettneubau kritischer, der tadellos funktionsfähige Häuser sorglos auf den Müll wirft. Das Argument eines Bauherrn, der Bestand sei eben „in die Jahre gekommen“ und daher quasi wertlos, wird heute nicht mehr brav akzeptiert.

„Der Ziegelbau aus dem späten 19. Jahrhundert ist in hervorragendem Zustand,“ bekräftigt Architekt Norbert Mayr, Sprecher der Initiative Bauten in Not, der den Bestand in Krems unter die Lupe genommen hat. 2Er stellt eine robuste, wertvolle Ressource mit hoher Nutzungsflexibilität dar und eignet sich optimal zum Weiterbauen. Eine Zerstörung wäre angesichts der Klimakrise und der notwendigen CO2-Reduktionsziele unverantwortlich“.

Auch Ulrike Hohenwarter, die seit 1998 Stadtführungen in Krems anbietet, darunter auch „ugly tours“, kann dem Projekt wenig Gutes abgewinnen. „Ich vermisse in Krems gute Kombinationen von Alt und Neu, wie es sie etwa in Südtirol oder Skandinavien gibt,“ sagt sie. „Außerdem entspricht es nicht mehr zeitgemäßen Konzepten des Stadtmarketings, wenn alle mit dem Auto in die Tiefgarage im Zentrum fahren.“ Zwar haben einige Handelsketten die Altstadt in Richtung Einkaufszentrum verlassen, aber ist es klug, wenn die Altstadt das System Einkaufszentrum nachahmt, um sie zurückzuholen?

Schöne Mitte, trister Rand

Der Gegensatz zwischen schöner Mitte und tristem Rand ist typisch für Niederösterreich. Dabei hat sich einiges verbessert, wie Architekturkritikerin Franziska Leeb sagt, Vorsitzende des Vereins ORTE Niederösterreich. „Die niederösterreichische Architekturlandschaft hat sich seit der Jahrtausendwende weiterentwickelt.  Die architektonische Wüste, die Mitte der 1990er Jahre herrschte, ist einem zunehmend hohen Niveau gewichen. Es passiert aber immer noch zu oft, dass guter Bestand leichtfertig durch nichts besseres Neues ersetzt wird. Vermehrt wenden sich Bürger mit solchen Fällen an uns. Das macht deutlich, wie sehr solche Fragen ein Anliegen der Zivilgesellschaft geworden sind. Baukulturelle Leitlinien, wie sie vor ein paar Monaten in Kärnten etabliert wurden, wären auch in Niederösterreich wünschenswert.“

Der Antrag der SK Immobilien GmbH auf Erlassung eines Interessensbescheids wird derzeit geprüft. „Aus derzeitiger Sicht ist mit einer erstinstanzlichen Entscheidung bis Ende Juni zu rechnen,“ sagt Hannes Zimmermann, Leiter der Bezirksverwaltungsbehörde. Bürgermeister Reinhard Resch (SPÖ) will dem nicht vorgreifen, betont aber auf STANDARD-Anfrage: „Grundsätzlich bin ich für jedes Vorhaben, das zur Belebung der Innenstadt und zur Erhöhung der Lebensqualität beiträgt.  Beim konkreten Projekt steht die Frage des überwiegenden öffentlichen Interesses des Abrisses des bestehenden Gebäudes im Raum.“

Eine sehr gute Frage, die über das Behördliche hinausgeht. Ein guter Anlass, um darüber nachzudenken, welche Teile der Öffentlichkeit den Wert eines Gebäudes bestimmen. Nicht alle haben denselben Wertebegriff wie eine Bank. Die Geschichte dieses Hauses zeigt, wie Gebäude sich der Zeit anpassen können. Dazu müssen sie weder Landmark sein noch mit Stuckfassaden prunken. Es reicht schon die solide Substanz, um ein Ausrufezeichen zu setzen.

 

 

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 27./28.2.2021