Der Architekturpublizist Markus Miessen über falschen Konsens, guten Konflikt und die Rolle der Architekten in der Politik
In seinem 2012 erschienenen Buch Albtraum Partizipation geißelte der Berliner Architekt und Publizist Markus Miessen die romantische Verklärung der Basisdemokratie und die in technokratischem Geplänkel versandeten Liquid-Democracy-Bemühungen der Piratenpartei. Es müsse eben nicht immer "jede letzte Schnarchnase" an allem beteiligt sein. Anstatt Verantwortung bequem durch Volksabstimmungen abzuwälzen, gelte es, Mut zum Konflikt zu zeigen - eine Rolle, für die Architekten als Generalisten ohne Lobby prädestiniert seien.
In Ihrem Buch "Albtraum Partizipation" bezeichnen Sie die Occupy-Bewegung, die Piratenpartei und die arabischen Twitter-Revolutionen als Beginn eines neuen partizipativen Zeitalters. Woher kommt das?
Miessen: Das liegt sicher einerseits an den technischen Möglichkeiten des Internets der letzten 15 Jahre, die inzwischen auch Altersgruppen wie der unserer Eltern den Zugang ermöglicht haben. Andererseits gibt es ein zunehmendes Interesse an demokratischen Prozessen. Das heißt aber nicht, dass das alles ausschließlich gut ist.
Worin liegt der Albtraum in der Partizipation?
Miessen: Ich stelle nicht das System infrage - ich glaube an das Modell der repräsentativen Demokratie. Aber ich misstraue der Vorstellung der Basisdemokratie als Allheilmittel. Das Thema Partizipation ist in den letzten 15 Jahren sehr oft als Ausrede benutzt worden, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Es gab viele nebulöse Partizipationskonstrukte, bei denen man das diffuse Gefühl hatte, man habe sich einbringen können. Für Politiker ist das perfekt, um sich der Kritik zu entziehen. Im Nachhinein können sie immer sagen: Ihr habt es doch so gewollt!
Wie sieht die Alternative dazu aus?
Miessen: Partizipation ist für mich die Möglichkeit der Selbstermächtigung. Basisdemokratie kann nicht heißen, dass ich abwarte, bis mich jemand zur Teilnahme einlädt. Sondern initiativ zu agieren, auch und gerade in Situationen, in denen man nicht eingeladen ist. Indem man sich in bestehende Diskussionen, in die man nicht involviert ist, aktiv hineindrängt.
Sie werben in Ihrem Buch für eine neue Rolle der Architekten als "uneingeladene Außenseiter". Was befähigt die Architekten dazu?
Miessen: Die Architektur ist in der Öffentlichkeit nicht gerade als Hort der Basisdemokratie bekannt. Und ich würde diese Rolle auch nicht exklusiv den Architekten auf den Leib schneidern. Es geht mir mehr darum, als Vertreter der Zivilgesellschaft zu agieren. Man ist als Architekt immer ein Mediator - mit dem Nachteil, dass man immer auf der Suche nach Konsens ist. Ich finde es spannender, wenn man auch bewusst den Konflikt in Kauf nimmt, ohne sich von vornherein auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Der Publizist Carson Chan hat für die Rolle des Architekten die schöne Analogie der Hebamme geprägt. Er muss nicht bis in alle Ewigkeit mitreden, sondern durch kurze Intervention eine Idee auf die Welt bringen.
Also ein neues Tätigkeitsfeld für Architekten in Zeiten, in denen es nicht genug Bauaufträge gibt?
Miessen: Ich würde jetzt nicht allen Architekten empfehlen, Partizipationsmodellen hinterherzurennen. Aber mehr Eigeninitiative, mehr Unternehmertum, mehr Forschung wäre wünschenswert, davon gibt es sehr wenig in der Architektur. Innerhalb der Architektenschaft hat sich in den letzten zehn Jahren eine Art Subkultur herauskristallisiert, die sich mit raumpolitischen Fragen auseinandersetzt. Auch die Feuilletons, die sich sonst nur auf Stararchitekten konzentrieren, haben diese Themen zunehmend aufgegriffen.
Die Partizipation in der Architektur hatte eigentlich ihre Hochphase in den 1970er- und 1980er-Jahren. Verkörpern die Wutbürger von Stuttgart 21 die Renaissance dieser Ära der Bürgerbeteiligung?
Miessen: Mich hat bei dieser Debatte gewundert, dass niemand gesagt hat: Ihr hattet lange genug Zeit mitzubestimmen und habt es nicht getan - Pech gehabt! Ich stehe Stuttgart 21 relativ neutral gegenüber, aber wenn ich vor zehn Jahren dazu eine entschiedene Meinung pro oder contra gehabt hätte, hätte ich mich da eingebracht. Das hat aber damals fast niemand getan. Dazu hätte man auch nicht Architekt sein müssen, das kann auch die Hausfrau oder der Zoodirektor. Jetzt, da es zu spät ist, trifft man sich, polemisch gesagt, protestierend zu einer Party im Park vor dem Bahnhof, und abends um acht geht man brav wieder zum Spätzleessen nach Hause.
Gibt es bessere Beispiele dafür?
Miessen: Es gibt Ansätze, durch die ganz neue Arten von Architektur entstanden sind, etwa die Baugruppen, die ganz auf Eigeninitiative zurückzuführen sind oder von Architekten initiiert wurden. Das verkörpert eine neue Idee, wie man in der Stadt leben kann - ohne dass man das schreckliche Wort "Vision" bemühen muss. Wenn man sich eine Stadt wie Berlin oder London anschaut, sind es tatsächlich diese Typologien, die im positiven Sinne die größte Veränderung der letzten Jahre darstellen.
Könnte das ein tragfähiges Modell des Zusammenlebens sein, das zukünftig in breiter Form angewendet wird?
Miessen: Ich glaube schon. Für den Großteil der Architekten ist das heute noch uninteressant, weil man nichts daran verdient. Aber einzelne Vorreiter können hier für ein Thema sensibilisieren, das später von größeren Büros aufgegriffen wird. Auch in den Städten können sich Architekten als politische Akteure einbringen, die Institutionen infiltrieren, in denen die Entscheidungen getroffen werden, welche die Stadt beeinflussen. Architekten denken immer, der gebaute Raum habe massiven Einfluss auf die Stadt. Smart Cities zu planen ist natürlich eine gute Sache, aber es gibt viele weiche Faktoren, die das Leben der Bürger weit mehr beeinflussen.
Welche zum Beispiel?
Miessen: In Berlin wird zurzeit ein Gesetz diskutiert, das es verbietet, Eigentumswohnungen das ganze Jahr als Ferienwohnungen zu vermieten. Diese Praxis nimmt rapide zu, mit Wahnsinnspreisen und der Folge, dass ganze Stadtviertel zu Hotels werden und es kein zivilbürgerliches Leben mehr gibt. Das ist also eine Möglichkeit des Eingreifens, die an sich nichts mit Architektur zu tun hat, aber enorme Folgen haben kann.
Ihr Starkollege Rem Koolhaas meinte einst, Architekten würden per se als politisch blind angesehen. Müssen Architekten politisch mutiger werden?
Miessen: Das würde ich mir wünschen! Architekten haben zwar oft politisch-moralische Vorstellungen, werfen diese dann aber gerne über Bord, wenn ein Projekt in Gefahr ist. Das ist zwar kein speziell architektonischer Charakterzug, es fällt bei ihnen aber eher auf, weil sie von den Machtstrukturen öffentlich beauftragt werden. Der Bau des Berliner Bundeskanzleramts zum Beispiel ist die exakt verräumlichte Version von Helmut Kohl! Dessen Architekt muss sich sagen lassen, dass er hier eine ganz bestimmte politische Überzeugung baulich realisiert hat. Gut, vielleicht teilt er ja diese Überzeugung, dann ist es in Ordnung. Kritischer wird es, wenn Architekten in weniger demokratischen Ländern Staatsstrukturen nachbauen.
Architekten sehen sich heute oft als Dienstleister. Sind sie als solche nicht wirtschaftlich viel zu abhängig, um Konflikte mit zu schüren?
Miessen: Ich will niemanden vorverurteilen, nur weil er wirtschaftlich von Aufträgen abhängig ist. Man sollte sich aber dessen bewusst sein, dass jede Entscheidung eine raumpolitische Konsequenz hat. Es dauert nicht nur lange, Architektur zu realisieren, sie hat auch eine lange Halbwertszeit, die Menschen müssen sehr lange damit leben. Man sollte sich dieser Verantwortung auch bewusst sein.
(erschienen in: Der Standard, 19./20.1.2013)