Ein Team der Kunstuniversität Linz entdeckte an der Wiener Peripherie einige Gemeinsamkeiten mit Nevada und entwickelte Ideen für die Grauzone zwischen Stadt und Land
Woran merkt man, dass man das Wiener Stadtgebiet verlassen hat? An der plötzlichen Abwesenheit von MA48-Werbesujets? An der sprunghaft steigenden Anwesenheit von Shoppingcentern, Einfamilienhäusern, Traktoren? Die Antwort ist: Man merkt es immer weniger. Der auf ewig festzementierten Grenze in den administrativen Köpfen zum Trotz ist Wien längst ins Niederösterreichische ausgeufert, ehemalige Dörfer sind zu einer Art Peripherie-Porridge zusammengewachsen, und aus der Luft besehen reicht Wien mindestens von Mödling-Süd bis nach Wolkersdorf-Nord und Stockerau-West.
Orte, die bis vor kurzem Inseln kirchenglockiger Beschaulichkeit waren, sind in kürzester Zeit zu Städten geworden. Nicht selten, ohne es selbst zu merken oder sich einzugestehen. Aber ist ein Dorf mit eigenem Speckgürtel noch ein Dorf? Fragen wie diese verhallen in diesem Niemandsland meistens im Lärm der von Pendlern verstopften Asphaltwege.
Wenn sich also Architekten und Planer dieser Grauzone annehmen, kann das nur mehr als willkommen sein. "Learning from Gänserndorf" lautet der Titel eines Forschungsprojektes an der Kunstuniversität Linz, das in Kooperation mit der Niederösterreichischen Wohnbauforschung entstand und zurzeit am afo (Architekturforum Oberösterreich) zu sehen ist. Sabine Pollak, Professorin für Urbanistik, und Lars Moritz vom Institut für Alltagsforschung haben sich mit ihren 20 Studierenden ins Marchfeld aufgemacht, um unvoreingenommen zu erkunden, wie sie nun eigentlich aussieht, die Peripherie.
Aber warum ausgerechnet Gänserndorf? "Der Ort ist durch die gute Anbindung an Wien gerade noch urban und liegt dennoch mitten in der freien Landschaft, mit Bohrtürmen und Windrädern als Skulpturen in der Ebene", erklärt Sabine Pollak. Lars Moritz fügt hinzu: "Gänserndorf ist in den letzten 30 Jahren auf das Doppelte gewachsen, mehr als die meisten Orte um Wien. Eine enorme Veränderung. Da stellt sich natürlich die Frage, wie diese Orte in Zukunft aussehen werden." Noch dazu liegt Gänserndorf exakt in der Mitte zwischen Wien und Bratislava, den zwei Hauptstädten, die sich trotz regelmäßig ventilierter Twin-City-Pläne immer noch dagegen sträuben, etwas miteinander zu tun zu haben.
Nächste Frage: Warum "Learning from" Gänserndorf? Der Titel der Unternehmung wird Architekturkennern ein wissendes Nicken entlocken: Im Jahre 1968 hatte sich das Architektenpaar Robert Venturi und Denise Scott Brown in die Wüste von Nevada aufgemacht, um mit ihren Studenten ganz wissenschaftlich die Stadt Las Vegas zu untersuchen. Dieser hatte bis dahin niemand auch nur irgendeinen architekturhistorischen Wert zugeschrieben, war doch die Stadt mehr ein gebauter Witz, ein Luftschloss des Spaßes, ein glitzernder Hort der Vergänglichkeit. Venturi und Scott Brown jedoch fanden heraus, dass Las Vegas sehr wohl seinen eigenen und keineswegs banalen Regeln folgte. Ihr Buch "Learning from Las Vegas" erschien 1972 und ist bis heute ein Standardwerk.
Nun gut, man sieht zwar bisweilen in den Weiten Niederösterreichs aufgetunte Ford Mustangs mit Kennzeichen wie "CHARLIE 66" laut aufheulend vorbeirasen und bekommt eine Ahnung der Sehnsucht nach Wildheit und Westen, aber was hat das Marchfeld wirklich mit der Wüste von Nevada zu tun? "Die Fahrt entlang der B8 erinnerte mich immer an Straßen in den USA, auf denen man den Raum nur aus dem Auto heraus erlebt", sagt Sabine Pollak. "Die Architektur rechts und links ist nicht immer schön, aber sie hat ihren Charme. Deshalb haben wir die Verbindung zwischen Wien und Gänserndorf auch den Strip von Gänserndorf genannt."
Ähnlich wie die amerikanischen Äquivalente vor 48 Jahren gingen auch die Linzer betont unbefangen an die Analyse der Marchfeldmetropole heran. Sie begannen mit der Exkursion entlang des "Strips", von der Wiener Reichsbrücke über Strasshof bis Gänserndorf, vor Ort folgte zunächst ein ganz unbefangenes Tourismusprogramm (Erdöl-Lehrpfad, Biohof, Aussicht vom Silo). Mit dem Institut für Alltagsforschung stellten sie ein mobiles Forschungslabor auf die Straße und kamen schnell in Kontakt mit den Bewohnern. "Wir wollten nicht in Linz sitzen und von oben auf die Einfamilienhäuser herabschauen", betont Lars Moritz. Stattdessen: Abende am Stammtisch und ein 24-Stunden-Liveticker von 6 Uhr früh bis zum nächsten Morgen, Nachtleben mit Helene-Fischer-Disco inklusive. Nebenher wurden Statistiken ausgewertet, eine Wanderkarte erstellt.
Soviel zur Gänserndorfer Gegenwart. Anders als Venturi und Scott Brown, die es bei einer fundierten Analyse beließen, wurden Pollak, Moritz und ihre Studenten zu Futuristen und malten sich das Szenario für Gänserndorf im Jahr 2050 aus. Wie könnte eine Stadt aussehen, die bis dahin auf 40.000 Einwohner angewachsen ist? Reine Science-Fiction sollte dabei ebenso wenig herauskommen wie ein auf XXL-Größe aufgepumpter Status quo. "Es war uns wichtig, nicht immer nur in den engen Grenzen des Machbaren zu denken, sondern uns Freiheiten gegenüber der Zukunft herauszunehmen", sagt Lars Moritz. "Mit der Seestadt Aspern entsteht zur Zeit ein recht konventionelles Modell von Stadt, wir wollten etwas anderes versuchen."
Die vier von den Studierenden entwickelten Szenarien haben eines gemeinsam: Gänserndorf 2050 sollte und würde urbaner werden. Auf die Frage, was "urban" wirklich bedeutet, fanden sie unterschiedliche Antworten. Das "Gänserndorf der Commons", das die kapitalistische Warenproduktion abschaffen will, ist dabei sicher die politisch radikalste und umgibt den Ort mit einem 300 Meter breiten Gürtel aus wild wucherndem Niemandsland. "Post Oil Gänserndorf" entwickelt eine Vorstellung des Ortes ohne Abhängigkeit von Auto und Ölproduktion, und "Stadtleben trifft Landleben" träumt vom Nevada-Marchfeld als dem Besten aus zwei Welten: Natur und weite Räume mit allen städtischen Annehmlichkeiten, eine Utopie mit geringer Fallhöhe zum Bobo-Paradies. Das "Gänserndorf der Multitude" schließlich feiert die Vielfalt in Zeiten der vielfältigen Migrationsbewegungen.
Was haben die Macher also von Gänserndorf gelernt? "Ich bin als Stadtkind aufgewachsen", erzählt Hannah Buschek, eine der Studentinnen. "Erst während des Projekts ist mir klargeworden, wie die Leute auf dem Land und an der Peripherie leben und wie wichtig es ist, sich als Architekt und Stadtplaner mit solchen Orten zu beschäftigen."
Und was können wir nun alle von Gänserndorf lernen? Sabine Pollak: "Darüber, wie das zukünftige Leben und Wohnen auf dem Land aussehen könnte. Man wohnt im Grünen, aber verdichtet, holt sich Gemüse vom Biobauern, geht mit den Kindern in den Erlebnispark und organisiert Garagenflohmärkte in leer stehenden Einfamilienhäusern entlang der B8. Der Strom kommt vom Windradpark nebenan, und wenn man mehr Stadt möchte, ist man in einer halben Stunde mit dem Zug in Wien oder Bratislava. Was wäre daran schlecht?" Die Szenarien mögen manchem naiv erscheinen, doch besser als ein Wildwuchs von Schlafstadt zu Schlafmetropole sind sie allemal. Bedauerlich ist nur, dass die Werke nur in Linz und nicht in Gänserndorf selbst gezeigt werden. Aber vielleicht folgt ja bald ein Learning from Mödling, Wolkersdorf oder Stockerau.
Mehr Info: Learning from Gänserndorf
Ein ähnliches Thema behandelt das Buch "Lernen vom Raster - Strasshof und seine verborgenen Pläne"