"Warum nicht neben einer Fabrik wohnen?" - Interview mit Andreas Hofer

Der Schweizer Architekt Andreas Hofer ist Intendant der Internationalen Bauausstellung IBA 27 StadtRegion Stuttgart. Ein Gespräch über das Erbe der Moderne, Lösungen für die Wohnungskrise und über seine Wiener Styropor-Allergie.

Die Region Stuttgart ist eine der reichsten der Welt. Doch wie andere deutsche Städte wurde auch sie von der Wohnungskrise erwischt. Lösungen für diese und andere Fragen erhofft man sich von der Internationalen Bauausstellung IBA 2027 StadtRegion Stuttgart. Deren Intendant, der Schweizer Architekt Andreas Hofer, wurde in Zürich mit innovativen Wohnmodellen bekannt. Diese Woche war er auf Einladung der TU in Wien, einer Stadt, die mit der IBA Wien_2022 ebenfalls eine Internationale Bauausstellung plant.

Wozu braucht man heute überhaupt eine Internationale Bauausstellung? Was ist die Aufgabe einer IBA?

Andreas Hofer:

Ich habe um 1987 in Berlin gewohnt, als dort die IBA stattfand. Das war für mich als junger Architekt ein Meilenstein. Alles wurde diskutiert, Architekten aus der ganzen Welt kamen nach Berlin. Grundsätzlich finde ich: Eine IBA muss eine eigene Geschichte erzählen können.  Manche sagen, das Bauen ist gar nicht so wichtig, wir machen nur Partizipation und Prozesse. Das reicht aber nicht. An der ETH habe ich den schönen Satz gelernt. „Produkte sind Prozesse UND Produkte“. Nicht nur Prozesse. Dieses Zusammenbringen im Maßstab 1:1 habe ich schon immer gemacht: Die Häuser und die Menschen in der Stadt verändern.

Das heißt, das „B“ in IBA ist für Sie ganz elementar.

Absolut. Man muss schon etwas bauen! Sonst wäre es ja auch absurd, mit so vielen Ressourcen über so eine lange Zeit zu arbeiten.

Abgesehen von Berlin, welche bisherigen IBAs haben Sie genauer verfolgt?

Ich habe Hamburg sehr nah verfolgt, das fand ich als IBA etwas gescheitert. Da ist viel Gutes passiert im Stadtviertel Wilhelmsburg, aber auf der Ebene der Sichtbarkeit und des Gebauten hat es weniger funktioniert. Viele IBA-Direktoren haben auch nicht den direkten Bezug zur Architektur, weil sie einen anderen Hintergrund haben.

Sie sind selbst Architekt. Sind IBAs eine Möglichkeit für Architekten, ihre innovativen Ideen zu zeigen?

Es geht nicht darum, den Architekten eine Plattform zu bieten, wo sie ihr Architektur zeigen können. Es geht darum, Architektur zu den Leuten zu bringen, sich dem öffentlichen Diskurs zu stellen. Die Stuttgarter Weißenhofsiedlung auf der Werkbundausstellung 1927 war heftig umstritten, die Leute haben sich gegenseitig beschimpft!

Es ist kein Zufall, dass die jetzige IBA zum 100. Jubiläum der Weißenhofsiedlung stattfindet. Birgt die Moderne noch uneingelöste Versprechen?

Wir befinden uns seit mehreren Jahrzehnten in einem pubertären Ablösungsprozess von der Moderne, und Stuttgart ist einer der spannendsten Orte, wenn es um die postindustrielle Gesellschaft geht. Für mich ist die Auseinandersetzung mit der Moderne als Lebensstil und Architektur zentral. Die Weißenhofsiedlung selbst ist sehr widersprüchlich. Eigentlich ist sie eine Puppenstube mit teilweise winzigen Wohnungen. Die Konzepte der Minimalwohnung und der Ressourcen waren damals und sind heute noch sehr relevant.

Stichwort Minimalwohnung: In Stuttgart sind die Mieten astronomisch, Wien baut kleine Smart-Wohnungen. Müssen wir die Wohnfläche reduzieren, um das Wohnen wieder leistbar zu machen?

Ich würde die Frage noch viel radikaler stellen. Ergibt es Sinn, dass wir für jede Person den x-fachen Flächenbedarf bauen? Wohnen, Büro, Schule, Freizeit, Sport, das sind alles riesige Flächen. Dieser Luxus ist auch ökologisch ein Irrsinn. Er ist das Produkt einer Wachstumsgesellschaft, in der alles immer größer wird, vom Auto bis zum Fernseher. Fragen wir uns doch: Was passiert, wenn es in 10 Jahren vielleicht Arbeit und Wohnen so wie heute nicht mehr gibt?

Lassen sich die Erfolgsgeschichten der Zürcher Genossenschafts-Wohnmodelle nach Deutschland exportieren?

Ich bin offen für bessere Modelle als das Genossenschaftliche, aber ich habe noch keines gefunden. Aber ich bin vorsichtig mit dem Begriff des Exportierens. Das hat so etwas Koloniales. Aber die Diskussion über gemeinwohlorientierten Wohnungsbau muss in Deutschland geführt werden, und das wird sie auch. Spannend finde ich auch die Frage des Maßstabs. Man hat in Deutschland durch Erfahrungen wie den Neue-Heimat-Skandal Anfang der 80er Jahre ein Trauma der Großsiedlungen, und hat sich dann in Baugruppenmodelle geflüchtet. Jetzt merkt man, dass man mit einer falschverstandenen grünen Aversion gegen „große böse Häuser“ mit unglaublichem Aufwand kleine Häuser produziert, die sehr teuer und kompliziert sind. Ich habe kürzlich den Stuttgarter Baubürgermeister gefragt, welche Wohnsiedlung mit mehr als 200 Wohnungen in den letzten 20 Jahren gebaut wurde. Die Antwort: Keine einzige!

Von neoliberaler Seite heißt es immer, man müsse den freien Markt nur ganz viel bauen lassen, und die Wohnungskrise wäre gelöst.

Ja, und alles deregulieren! Das ist reine Ideologie. Wohnungsmärkte funktionieren nicht über Angebot und Nachfrage wie Schokolade. Prozesse wie die Globalisierung der Kapitalströme können nicht über das Bauen aufgefangen werden. Da kommt nicht einmal der Immobilienmarkt hinterher. Also muss man das System stabilisieren. Sinnvoll wäre, wenn so wie in Zürich etwa ein Drittel der Wohnungen nicht den spekulativen Kräften unterworfen ist. Man muss sie dem Markt, aber auch der Politik entziehen.

Deutsche Städte habe ihren kommunalen Wohnbestand verscherbelt und versuchen ihn jetzt, um ein Vielfaches wieder zurückzukaufen. Wien hat genau das nicht getan. Ist Wien ein Vorbild?

Das sind eindrückliche Resultate, und die Qualität ist überdurchschnittlich. Andererseits sind Wohnen und Politik hier stark verflochten. Da eine Dynamik ins System zu bekommen, ist nicht einfach. Und wenn ich mir die Neubaugebiete in Wien anschaue, bekomme ich irgendwann eine Styropor-Allergie.

Es heißt dann, man müsse beim Wohnbau eben sparen.

Früher bekam ich in Deutschland immer zu hören: Jaja, ihr reichen Schweizer könnt euch die schönen Fassaden leisten, wir müssen um 1600 Euro pro Quadratmeter bauen. Heute baut man in Stuttgart um 4000 Euro, das ist teurer als in der Schweiz! Aber wenn wir an Ressourcen denken, spielen diese Kosten eine viel geringere Rolle. Wir müssen langfristig denken und dauerhaft bauen. Wir reißen heute 30 Jahre alte Häuser ab, das ist eine riesige Kapitalvernichtung. Wir sollten wieder für 200 Jahre bauen!

Stuttgart hat die höchste Architektendichte in Deutschland und gute Hochschulen, aber ist in der Baukultur seit langem eher Mittelmaß. Wie wichtig ist Baukultur für die IBA?

Sehr wichtig! Die Architektenschaft in Stuttgart ist extrem internationalisiert, meistens im Team mit den Ingenieuren. Die bauen auf der ganzen Welt, die müssen in Stuttgart nicht bauen, um zu überleben. Es gibt eine gute Qualität bei Museen und Schulen, etwa bei den Bauten von Lederer Ragnarsdottir Oei. Der Wohnungsbau ist allerdings eine Katastrophe. Zürich hat sich über den Wohnungsbau in die Architekturdiskussion hineingespielt, in Stuttgart wüsste ich nicht, was ich zeigen sollte.

Stuttgart kennt man international vor allem wegen seiner Autoindustrie und Stuttgart 21. Welche Bedeutung haben Verkehr und Mobilität für die IBA?

Wir sind keine Mobilitätsausstellung. Das können andere besser. Wir denken aber darüber nach, wie die zukünftige Stadt in anderen Mobilitätsszenarien aussieht. Was, wenn sich Arbeiten und Wohnen anders mischt? Warum nicht in einem Hafen wohnen, oder neben einer Fabrik? Ich habe die Leute von Porsche gefragt, wie sich deren Produktion verändert, und sie haben gesagt: Unser einziges Problem mit Emissionen sind die Autos, mit denen unsere Angestellten zur Arbeit fahren.

Hat sich durch Stuttgart 21 eine öffentliche Debattenkultur entwickelt, oder hat der heftige Streit das Klima vergiftet?

Beides. Es hat sicher zu einer Sensibilität für Stadtentwicklung geführt, nur war es leider nicht produktiv. Aber wir als IBA merken, dass die Leute heute auch positiv über Architektur diskutieren wollen, weil sie das hinter sich bringen wollen.

Bis 2027 sind es noch sieben Jahre. Wie hält man über diese lange Zeit die Spannung aufrecht?

So lang ist es gar nicht. Eigentlich hat alles, was ich bisher gemacht habe, zwischen sieben und zehn Jahren gedauert. Das braucht man auch. Man muss die Ideen erst entwickeln und sie dann bauen.

Können Sie sich als Schweizer in Stuttgart eher erlauben, unangenehme Wahrheiten auszusprechen als es lokale Architekten könnten?

Es ist nicht meine Art, als Besserwisser aus der Schweiz zu kommen, der erzählt, wie es richtig geht. Aber die Stuttgarter haben sich nach langen Diskussionen entschieden, jemanden von außen zu engagieren. Daher kann ich ihnen sagen: Ihr wolltet ja jemand, der euch hilft, aus dem Trott auszubrechen und zukunftsfähig zu werden. Und das verstehen die Leute auch.

 

Andreas Hofer (Jg. 1962) studierte Architektur an der ETH Zürich. Er war Partner im Zürcher Büro Archipel und engagierte sich für den genossenschaftlichen Wohnungsbau. Seit Anfang 2018 ist er Intendant der Internationalen Bauausstellung IBA 2027 StadtRegion Stuttgart.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 24.1.2020