Warten auf den Schlussakkord

Vor einem Jahr starb der Architekt Raimund Abraham, sein letztes Bauwerk harrt der Vollendung.

Stirbt ein Künstler mit einem halbfertigen Werk, ist mit dem Ableben des einen auch der Abschluss des anderen unwiederbringlich verloren. Schuberts unvollendete Symphonie wird für immer unvollendet bleiben. Etwas anders verhält es sich in der Architektur: Die Liste von Bauwerken, die nach dem Tod ihrer Schöpfer vollendet wurden, füllt Bücher. Bekanntester Fall ist wohl Antoni Gaudís Sagrada Família.

Als der Architekt Raimund Abraham am 4. März 2010 in Los Angeles 76-jährig verunglückte, wurde vor allem sein Hauptwerk, das Österreichische Kulturforum in New York, in allen Nachrufen gewürdigt: Die nur sieben Meter breite, scharfkantige Scheibe gilt als "signifikantestes Beispiel moderner Architektur seit dem Guggenheim Museum".

Das übrige Werk des 1964 in die USA ausgewanderten Österreichers blieb eine Randbemerkung. Ein Haus für Musiker und eines für sich selbst in Mexiko wolle er noch bauen, sagte er wenige Jahre vor seinem Tod. Letzteres gelang ihm. Das Musikerhaus jedoch harrt auf einer Wiese neben der Autobahn nahe Düsseldorf noch immer der Vollendung.

Von Westen aus gesehen zeigt sich der Rohbau als gekippter, im Gras versunkener Kegelstumpf, ein archaischer Monolith aus fugenlosem Beton, wie von einer antiken Zivilisation zurückgelassen. Ganz anders die Gegenseite: ein kreisrundes, elegant dünnes Betondach mit 33 Metern Durchmesser balanciert auf wenigen Stützen, dramatisch gekippt, wie kurz vor dem Abheben.

Rückblick im Zeitraffer: 1982 kauft der Immobilienmakler und Kunstsammler Karl-Heinrich Müller das Gelände, eine ehemalige Nato-Raketenstation, mit dem Ziel, Kunst und Natur zusammenzubringen. Bald entstehen auf der Museumsinsel Hombroich die ersten Pavillons, dazwischen wächst malerisch die Wildnis heran. 1994 beauftragt Müller Raimund Abraham, ein Haus für Musikstipendiaten zu entwerfen. 1996 wird das Modell auf der Venedig-Biennale präsentiert, dann ziehen sich Planung und Finanzierung über Jahre hin.

Der benachbarte Kunstpavillon von Tadao Ando ist längst eröffnet, als Abraham 2006 endlich mit dem Bau beginnen kann. Kurz darauf stirbt Mäzen Karl-Heinrich Müller. Sein Nachfolger Wolfgang Schulhoff möchte den Rohbau zunächst als "schöne Skulptur" bestehen lassen. Der Tod des Architekten setzt hinter die Fertigstellung ein weiteres Fragezeichen.

Nun tut sich wieder etwas, wenn auch in Zeitlupe, sagt Horst Kappauf, seit Beginn in enger Zusammenarbeit mit Abraham als Bauingenieur vor Ort: "Die Rampen und Stiegen aus Stahl werden heuer montiert. Dann kommen die Fenster." Bis die Wohnräume, Studios und Bibliothek, für die Abraham sogar die Sessel entwarf, fertig eingerichtet sind, dürfte noch eine Weile vergehen. Bei der Stiftung Insel Hombroich legt man sich nicht fest: "Das hängt von der Förderung durch Land und Sponsoren ab." Und die Kosten? "Einige Millionen Euro - genau kann man das nicht beziffern." Abstriche an den Plänen würden jedenfalls nicht gemacht. Schließlich handelt es sich um ein Gesamtkunstwerk, wie Dorit Aviv, Abrahams frühere Mitarbeiterin in New York, betont: "Jedes Detail entspricht der Logik des Ganzen. Die Geometrie ist nie Selbstzweck, es ging ihm immer um die Musiker, die unter einem Dach wohnen, üben, spielen."

Ein Gesamtkunstwerk, das auch Abrahams alte Lehrstätte, die renommierte Cooper Union in New York, anlässlich des ersten Todestags mit einer Sonderausstellung honoriert. Bleibt zu hoffen, dass sich der eine oder andere zukünftige Sponsor in den Hallen einfindet. Wenn dann eines Tages der erste Ton im Haus für Musiker gespielt wird, wird auch der letzte Akkord im Werk von Raimund Abraham erklingen.

 

(erschienen in: DER STANDARD, 4.3.2011)