Wien wächst, und das findet nicht jeder gut. Schon lange wurde nicht mehr so heftig über Stadtentwicklung gestritten wie jetzt. Die Hochhausdiskussionen sind dabei nur ein Schauplatz von vielen.
Schreiduelle auf Pressekonferenzen, hitzige Debatten online und offline, gekündigte Freundschaften und ein Stadtrat, der über die immergleichen Diskussionen stöhnt. Nicht nur in Öffentlichkeit und Onlinekommentaren, auch unter Architekten wurde schon lange nicht mehr so heftig über ein Thema gestritten wie zurzeit über die Wiener Stadtentwicklung. Und nein, es geht dabei nicht um die Verkehrsberuhigung einer gewissen Einkaufsstraße. Der Streit um die Stadt entzündet sich nicht am horizontalen Pflaster, er kreist um die Vertikale. Man fühlt sich bisweilen an die Urmenschen erinnert, die in Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ aufgeregt um den schwarzen Monolithen tanzen – keiner weiß, warum.
Die Wiener Monolithen stehen an Donau und Wienfluss. Das heißt, ob sie dort stehen werden oder nicht, ist genau das, was debattiert wird. Da sind zum einen die Danube Flats, der von Investor Soravia Group und Project A01 Architekten geplante, rund 150 Meter hohe Wohnturm an der Reichsbrücke. Nicht nur eine Bürgerinitiative aus Bewohnern des benachbarten Harry-Seidler-Turms, sondern auch die Architektenkammer kritisiert das Projekt: Deren Stellungnahme zur Änderung des Flächenwidmungsplans im Dezember ließ kaum ein gutes Haar am Verfahren. Keiner der städtebaulichen Pläne habe an dieser Stelle je ein Hochhaus vorgesehen, die Begründung für die Aufzonung sei unzureichend und offensichtlich rein auf die Interessen des Investors zugeschnitten.
Dabei ist die Debatte um die Danube Flats noch relativ verhalten. Kritisiert wird weniger das Hochhaus an sich – derer gibt es auf der Donauplatte schließlich reichlich – als die defensive Haltung der Stadt gegenüber dem Investor. Feuriger geht es in Sachen Hochhaus beim Eislaufverein zu: Seit dem Wettbewerbssieg des Entwurfs von Isay Weinfeld für die Erweiterung des Intercont-Hotels strebt jede Diskussion um Stadtentwicklung früher oder später auf dieses Aufregerthema zu. Auch hier waren Architekten als Teilnehmer und als Protestierer involviert: Im Mai 2013 schickten sie einen offenen Protestbrief an die grüne Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou mit vielen offenen Fragen, vor allem der, warum das private Interesse eines Investors plötzlich ein so dringendes öffentliches geworden sei.
Am Frontverlauf hat sich seitdem wenig geändert. „An diesem Ort ist ein Hochhaus grundsätzlich nicht angebracht“, bekräftigt Architekt Andreas Vass, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA). „Es ist ein kapitaler städtebaulicher Fehler mit fataler Präzedenzwirkung. Es gibt bis heute keinen triftigen Grund für ein Hochhaus an dieser Stelle, und die alleinige Motivation durch die Gewinnerwartung des Investors ist so offensichtlich, dass jede Diskussion darüber unnötig scheint.“
Einige Architekten, die das kooperative Verfahren anfangs unterstützten, wandten sich enttäuscht vom Ergebnis ab. Nur AzW-Direktor Dietmar Steiner wechselte die Seiten und wurde vom Kritiker zum Befürworter des Projektes, was ihm, erst recht nach der Isay-Weinfeld-Ausstellung im AzW, ein Bombardement an teils untergriffigen Vorwürfen einbringt. Auch sonst geraten in der Diskussion rationale und emotionale Argumente durcheinander, wenn städtebauliche Fragen an „schönen“ oder „schiachen“ Fassaden in Renderings oder an 250 Jahre alten Canaletto-Stadtpanoramen festgemacht werden.
Es gibt am Intercont-Projekt einiges zu kritisieren, wobei das Sich-Verlassen der Stadt auf das Ergebnis eines kooperativen Verfahrens schwerer wiegt als die Ästhetik des Siegerprojekts. Doch es entbehrt nicht einer Pikanterie, dass gerade ein Projekt, bei dem die Interessen aller Beteiligten in der Öffentlichkeit ausgebreitet wurden, erst recht angefeindet wird, während ominöse Grundstücksverkäufe wie 2012 in der Krieau, die mindestens ebenso viel Einfluss auf das Stadtbild haben, von der kritischen Fachöffentlichkeit ignoriert werden. Die Transparenz ist ein Fluch. Zukünftige Investoren werden sich zweimal überlegen, ob sie sich das antun oder lieber wie früher im diskreten Hinterzimmer verhandeln.
Transparenz, Information und Bürgerbeteiligung hatten sich auch die Wiener Grünen auf die Fahnen geschrieben, als sie das Planungsressort übernahmen. Spricht man mit Architekten, gestehen sie dies den Grünen auch ohne weiteres zu. Kaum einer der Fachleute trauert der Ära von SPÖ-Planungsstadtrat Rudolf Schicker nach. Auch der anfängliche Eindruck, den Grünen gehe es bei Stadtplanung vor allem um Verkehrsfragen und Radwege, hat sich inzwischen relativiert. Dennoch fragen sich viele, ob die Grünen nicht zu investorenfreundlich geworden sind. „Die Erwartungen in die grüne Stadtplanung waren sehr hoch“, sagt Architekt Vass. „Das Unverständnis für ihre Planungspolitik ist jetzt umso größer. Auch wenn es Bürgerbeteiligung und Rücknahmen von Fehlentwicklungen gegeben hat, etwa bei den Steinhof-Gründen, besteht insgesamt der Eindruck, dass noch investorenfreundlicher agiert wird als zuvor.“
AzW-Direktor Dietmar Steiner sieht die Entwicklung positiver: „Nachdem die letzten Jahre komplett von der Mariahilfer Straße überschattet waren, habe ich schon den Eindruck, dass unter Rot-Grün ein gewaltiger Schritt in der Stadtplanung getan wurde. Heute wird über Planungsvorgänge früher informiert, und sie werden transparenter gestaltet.“
Der Adressat, an den sich Vorwürfe wie Lob richten, will die Gleichung „Investor = böse“ nicht stehen lassen: „In der Architektendiskussion wird privates und öffentliches Interesse immer als unüberwindbarer Gegensatz gesehen“, sagt Christoph Chorherr, Planungssprecher der Wiener Grünen. „Das sehe ich nicht so. Für einen Developer ist ein urbanistisch sinnvolles Projekt auch privatwirtschaftlich sinnvoll. Auch Investoren können und müssen an Qualitätsverbesserung interessiert sein.“
Dennoch bleibt die Frage, ob eine Stadt, die soeben von der Unternehmensberatung Mercer zum wiederholten Mal zur lebenswertesten der Welt gewählt wurde, den Investoren, die ihr freudig zuströmen, nicht fordernder entgegentreten kann. Schließlich ist Wien keine Gemeinde im Waldviertel, die über jeden Baumarkt froh sein muss. Das tue man sowieso, sagt Chorherr. „Mit gutem Grund sind nicht alle Verhandlungen öffentliche Prozesse! Es sind schon Investoren erblasst, als sie gesehen haben, was die Stadt von ihnen verlangt, aber sie haben nicht abgelehnt. Wir haben die Druckmittel und spielen sie auch aus. Es ist nicht primäres Ziel, den Investoren Gewinn wegzunehmen, sondern Qualitätskriterien durchzusetzen.“
Um dies zu garantieren, hat die Stadt im Dezember zwei der wichtigsten Planungsentscheidungen der letzten Zeit beschlossen: das Hochhauskonzept und den Masterplan Glacis. Letzterer fügt bestehende Planungen und neue Ideen zwischen Ringstraße und Zweierlinie zusammen. Ersteres aktualisiert die recht vage gehaltenen Hochhausrichtlinien aus dem Jahr 2002 und stellt eindeutig fest: Hochhäuser soll es nur geben, wenn sie einen Mehrwert für die Gesellschaft bieten. Wie dieser Mehrwert aussieht, ist (teils öffentliche) Verhandlungssache. In ähnlichen internationalen Fällen, etwa in London, sind schon manche anfangs als öffentlicher Mehrwert titulierte Dachgärten nach der Eröffnung hinter Bezahlschranken verschwunden. Das oft beschworene „Münchner Modell“, das den Investoren für die massiven Gewinne, die sie durch Aufzonungen erzielen, finanzielle Abgaben abverlangt, ist in Österreich rechtlich nicht möglich – zumindest im Moment.
Bleibt Wien damit eine „Defensivstadt“, wie es der Architekturkritiker Walter Chramosta in einem Falter-Artikel zum Intercont-Streitfall beschrieb? Beim Magistrat nennt man es lieber einen „diskursiven Ansatz“. Die Zeit der Planungen von oben sei schließlich vorbei. Doch sollte die Stadt nicht vor dem Diskurs zumindest formulieren, was sie will, um der Gefahr einer „Schau ma mal“-Stadtplanung vorzubeugen? Architekt Andreas Vass ist skeptisch, was das Hochhauskonzept betrifft: „Die schon bisher schwachen Ausschlusszonen werden völlig aufgelöst. Die Folge wird eine Fortsetzung der derzeitigen Entwicklung sein: ein willkürliches Ausstreuen von Hochhäusern über das gesamte Stadtgebiet.“
Die Architektin und Stadtplanerin Silja Tillner, die 2002 beim ersten Hochhauskonzept beteiligt war, sieht dessen Update positiver, schlägt aber vor, den Mehrwert, den man den Investoren abluchsen kann, konkret in die Verbesserung bestimmter Stadtteile, etwa der Ufer von Donau und Donaukanal, zu lenken. Sie verweist auf Städte wie Basel oder Seattle, die mit solchen klaren Bestimmungen gut gefahren sind. „Klare Regeln haben den Vorteil, dass sie die Beamten entlasten. Wenn ein Hochhauskonzept nicht präzise ist, haben sie es viel schwerer in den Verhandlungen mit Investoren, die mit zig Beratern ankommen. Und die Investoren schätzen selbst auch klare Vorgaben, damit sie kalkulieren können.“
Ob Architekten, Politiker oder besorgte Bürger: Der Grund der Streitigkeiten ist, dass Wien nach Jahrzehnten grauer Stagnation erstmals wächst, und das schnell. Für eine Stadt, die so vergangenheitsverhangen ist, bedeutet Wachstum vor allem Wachstumsschmerzen. Daher die Angst um die vertraute Silhouette, daher die Angst vor Investoren und ihren Hochhäusern. Daher die Angst, das, was Wien lebenswert macht, zu verlieren, wenn man es mit immer mehr Neu-Wienern teilen muss.
Und daher auch die starken Bürgerinitiativen, wie die Initiative „Steinhof erhalten“ mit ihrer Forderung nach einem Bauverbot am Otto-Wagner-Spital. Nun waren gebildete Bürger, die die Initiative ergreifen, bisher Nährboden und Basis der Grünen. Um so enttäuschter äußern sich viele ihrer Vertreter, dass gerade diese Partei nun vermeintlich gemeinsame Sache mit der „anderen Seite“ macht und plötzlich nicht mehr jeden Baum vor jedem Neubau schützt.
Es sei ein Unterschied, ob die Initiativen ein allgemeines Interesse im Sinne der Stadt formulieren oder ein nur auf ihre Wohnsituation bezogenes Individualinteresse, sagt der grüne Planungssprecher Chorherr. „Dieses ist zwar legitim, aber ich verwehre mich dagegen, dass Einzelinteressen zu Allgemeininteressen hochstilisiert werden.“ Bürgerbeteiligung ja, Totalverweigerung nein – eine Haltung, die auch viele Architekten teilen.
„Wenn Bürgerbeteiligung so aussieht, dass gar nichts gebaut werden darf, dann ist das keine Bürgerbeteiligung“, sagt Dietmar Steiner. Und das Weltkulturerbe? Dies sei ohnehin eher für wirklich gefährdete Orte bestimmt als für Wien, wo bereits ausreichende Schutzzonen und Denkmalschutzregelungen bestünden. Warum also wird es in Wien immer gleich emotional, wenn es um Stadtentwicklung geht? „Es gibt hier keine Stadtplanung, weil sie 70 Jahre lang nicht notwendig war. Wir waren bis vor kurzem eine schrumpfende Stadt.“
Auch Architektin Silja Tillner findet komplette Verweigerung wie am Steinhof wenig hilfreich, diagnostiziert aber auf allen Seiten mangelnde Konfliktkultur: „Das Problem ist, dass die Diskussion immer zu spät stattfindet und die Bürger sich vor allem dann beteiligen, wenn sie als Anrainer betroffen sind.“ Tillner schlägt vor, regelmäßige Städtebaudiskussionen mit all jenen Bürgern und Fachleuten zu führen, die interessiert sind. Das wäre interaktiv und transparent. „Ich würde die Bürger am liebsten zur Teilnahme verpflichten!“
Christoph Luchsinger, Professor für Städtebau an der TU Wien, schließt sich dem Vorschlag an und denkt über ein regelmäßiges, offenes Städtebau-Forum an seinem Institut nach – ohne Standesdünkel. Man müsse alle einbeziehen, die Öffentlichkeit, die Fachleute, die Politik, die Wirtschaft. „Ich denke, dass es darum geht, sich jeden Tag aufs Neue ein Bild von Wien zu machen“, sagt Luchsinger. „Nur so, mit der Liebe zu dieser Stadt und dem Mut zu ihrer Veränderung im Gepäck, kann aus Wien Wien werden, getreu dem Zitat von Luchino Visconti: Es muss sich vieles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.“
Wünschenswert wäre es. Und, wer weiß, vielleicht können die Wiener so ihre Wachstumsschmerzen in der gemeinsamen Gesprächstherapie kurieren. Die Debatte geht weiter.