Wachstum im Vakuum

Wien ist nicht die einzige Großstadt, in der über Hochhäuser gestritten wird. Ein internationaler Vergleich zeigt die Parallelen und Unterschiede in der Diskussions- und Planungskultur. Schmerzhaft vermisst wird dabei: Eine Stadtverwaltung, die von Anfang an klar sagt, was sie will und was nicht und damit verbunden eine umfassende gesellschaftliche Debatte über das Stadtbild von morgen.

 

Städte wachsen, Städte verändern sich, und der Wert ihres Grund und Bodens wächst geradezu exponentiell mit in die Höhe. Die Frage, ob die Architektur proportional mit in die Höhe wachsen soll, wird nicht nur in Wien heftig debattiert. In welchem Ausmaß sind Hochhäuser verträglich, und welchen viel beschworenen „Mehrwert“ sollen sie liefern? Sollen sie auf kontrollierte Cluster beschränkt werden? Innerstädtisch oder peripher?

Wer plant, was sind die Regeln und was sind die Freiheiten? Sollen Ausschlusszonen und Eignungszonen festgelegt werden? Ist es zielführend, sich nach Art der „Schaun-mer-mal“-Stadtplanung jedes Projekt von neuem „in Ruhe anzuschauen“, wenn dies die Ruhe nichtöffentlicher Räume wie Hinterzimmer, Telefongespräche und Abendveranstaltungen ist? Wie offen, wie präzise soll ein Hochhauskonzept sein? Fördern geome­trisch exakte Beschränkungen von Volumina, wie in den seit einem Jahrhundert etablierten New Yorker „air rights“ die Qualität? Oder soll die vielbeschworene künstlerische Freiheit nicht eingeschränkt werden? Brauchen wir noch mehr Wolkenbügel?

Wiener Präzedenzfälle

Wien hat sich mit den Präzedenzfällen Donauplatte und Wienerberg nicht gerade in die Ruhmesgeschichte der Hochhausplanung eingetragen: Dichtgedrängte Ansammlungen von meist mediokren Türmen, dazwischen katastrophale Außenräume, der Wildwuchs kaschiert mit halbgaren „Masterplänen“. Heute entstehen neben dem Hauptbahnhof, in Erdberg und Transdanubien die nächsten Hochhauscluster. Die alles überstrahlende Debatte um das Projekt am Heumarkt bündelt und konzentriert das Spannungsfeld Hochhaus wie in einem Brennglas.

Diskutiert wurde es auch bei der von der Fachschaft Architektur Anfang April organisierten Veranstaltung „Stadtgeflüster“. „Auch wenn viele Köche beteiligt gewesen sind und dann eine versalzene Suppe rauskommt, muss man sie eben wegschütten“, summierte Christian Kühn den aus seiner Sicht aus dem Ruder gelaufenen Planungsprozess, bei dem sich die Stadt vom Investor am Gängelband habe führen lassen. Bezüglich der Frage, wo auf der Skala zwischen „präzise“ und „vage“ sich eine Hochhausrichtlinie ansiedeln sollte, betonte Andreas Vass, man könne solche gravierenden Eingriffe ins Stadtbild nicht mit „Aushandlungsprozessen“ lösen.

Jüngstes Kapitel in der unendlichen Geschichte: Die rot-grüne Stadtregierung beschloss, dass ab jetzt – das heißt post-Heumarkt – keine weiteren Hochhäuser in der Inneren Stadt ermöglicht werden sollen. Gerade zweieinhalb Jahre, nachdem man ein Hochhauskonzept beschlossen hat, welches diese Frage eigentlich schon langfristig geklärt haben sollte. Hat es auch, sagt deren Mitverfasser Christoph Luchsinger zum ­FORUM: „Hochhäuser innerhalb des Rings wären auch ohne diese politische Resolution nicht möglich. Man lese dazu die diskursiven Eingrenzungen im Text des Fachkonzepts Hochhaus.“

Den Mehrwert ausrechnen

Einer der am häufigsten kritisierten Aspekte des Hochhauskonzepts und des Heumarkt-Projekts ist die Frage des Mehrwerts. Ist die Bereitstellung einer Eislauffläche und einer Turnhalle oder die Begehbarkeit einer Terrasse gleichwertig zu setzen mit dem Widmungsgewinn des Investors? Gibt es überhaupt eine Rechenart, nach der finanzielle, materielle, kulturelle, touristische, lebensqualitative oder volksgesundheitliche Werte miteinander verglichen werden können, damit unter dem Strich ein messbarer Mehrwert he­rauskommt? Gibt es ein Minimum an Mehrwert für die Allgemeinheit, ab dem ein Turmprojekt legitim ist? „Nein“, so Luchsinger, „aber es gibt ein Optimum, das von der jeweiligen Örtlichkeit, der Programmatik, den infrastrukturellen Voraussetzungen und anderen Kriterien abhängt.“

Die von Kritikern wie Andreas Vass monierten Aushandlungsprozesse als Werkzeug der Hochhausplanung verteidigt Luchsinger: „Der städtebauliche Diskurs verhält sich in Wien anders als in anderen Städten. Die Wiener Befindlichkeit pendelt zwischen Vorschrift und Unterwanderung der Vorschrift. Während in anderen Städten Regeln wie finanzielle Mehrwertentschädigungen, Höhendefinitionen und Beiträge zum Freiraum festgezurrt und ausgelebt werden können, ist dies in Wien eher schwierig, es muss verhandelt werden. Dies ist nicht unbedingt negativ, denn die öffentliche Hand kann damit gewisse Ansprüche formulieren. Das Projekt Heumarkt ist diesbezüglich fortschrittlich.“

Abgesehen von Wiener Befindlichkeiten und erhitzten Gemütern lässt sich jedoch auch festhalten: Dem Investor permanent die Rolle des Bösewichts aufzubürden, geht an der Sache vorbei. Ein Investor reagiert auf das, was er vorfindet. Gibt es fixe Regeln, freut er sich, denn das erlaubt ihm, genau zu kalkulieren. Gibt die Politik eine Von-Fall-zu-Fall-Regelung vor, wird der Investor alles daran setzen, das Beste für sich herauszuverhandeln. Mit ungleich verteilten Ausgangspositionen, denn im Umgang mit Investoren, die mit einer Armada von Beratern und Anwälten anrücken, sind Beamte meistens überfordert.

Wildwuchs in Linz?

Dabei gibt es doch auch hier Planungsinstrumente von annehmbarer Präzision, nämlich den Flächenwidmungs- und Bebauungsplan. Es sind sicher keine ausreichenden Instrumente, aber genaue und rechtssichere, zumindest ist das ihre Aufgabe. Problematisch wird es, wenn diese im Aushandlungsprozess zur Verhandlungsmasse werden. Die Praxis, konkrete Planungsinstrumente unter Berufung auf „weiche“ übergeordnete Planungsziele scheinbar bedenkenlos zu ändern, ist, gelinde gesagt, missbrauchsanfällig.

Zur Zeit ist das in Linz zu beobachten: Hier legte eine Gruppe von Architekten Beschwerde bei der Volksanwaltschaft ein: Die Hochhausplanung in Linz sei kompletter Wildwuchs, Bebauungspläne würden nach Gutdünken abgeändert: „Die Stadt Linz kommt ihren Grundaufgaben der Raumplanung nicht (mehr) nach. Die Rechtssicherheit von bestehenden Bebauungsplänen ist im gesamten Stadtgebiet nicht mehr gegeben.“
Die Fallbeispiele: In Urfahr soll bis 2020 der rund 80 Meter hohe Bruckner-Tower entstehen, am Bulgariplatz ein 66-Meter-Wohnturm, an der Friedhofstraße das Ensemble „Drei Türme 2.0“ mit rund 170 Wohnungen, in der Kaarstraße ein 75-Meter-Turm. Der Architekt des (gemeinsam mit dem Büro Kneidinger geplanten) Drei-Türme-Projekts Jörg Stögmüller, sieht in der Entwicklung zur Vertikalen angesichts steigender Grundstückskosten eine sinnvolle Lösung: „Urbanität tut der Stadt gut“, sagte er kürzlich zum Standard.

Die in der Volksanwaltschaft-Beschwerde formulierte Kritik der Architekten sieht den mit dem Maßstabssprung verbundenen Bruch in der Stadtmorphologie eher problematisch: Ein Hochhaus mitten im feinkörnigen Stadtgefüge „widerspricht jeder sinnvollen städtebaulichen Zielsetzung“. Die Gestaltung und Fassadengliederung sei weniger das Problem. In der Tat: Um Fragen der architektonischen Qualität muss man sich weniger Sorgen machen, hier zeigt der Gestaltungsbeirat mit seinen Forderungen nach Einbindungen in die Umgebung und architektonischer Qualität, was er kann. Die wesentliche Entscheidung, ob ein Hochhaus überhaupt die richtige Lösung für den jeweiligen Ort ist, ist zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gefallen. Ein übergeordnetes Hochhauskonzept gibt es in Linz nicht.

Unterkante Uhrturm

Auch in Graz lebt das Thema derzeit auf, nachdem in der Vergangenheit immer wieder Ideen ventiliert wurden, die steirische Hauptstadt mittels Skyscraper-Injektion einen Schub in Richtung Metropole zu versetzen. Am 11. Mai wurde der neue Flächenwidmungsplan 4.0 beschlossen, darin werden genau umrissene Eignungszonen für Hochhäuser festgelegt. Als maximale Höhe gilt die Unterkante des Uhrturms. Das mag allzu simplistisch klingen, doch immerhin liegt einer solchen Regelung zumindest ansatzweise die Idee eines zukünftigen Stadtbildes zugrunde. Geplant und entwickelt wird längst: etwa der Science Tower hinter dem Hauptbahnhof als Aushängeschild der Smart-City oder der an Stefano Boeris zurzeit weltweit eifrig geklonten Bosco Verticale angelehnte Green Tower in Reininghaus.

Auch international scheint derzeit in jeder größeren Stadt, die ein Einwohnerwachstum zu verzeichnen hat, eine intensive Hochhausdebatte unter Architekten, Stadtverwaltung und der Öffentlichkeit geführt zu werden. In ­Berlin lagen die manhattanhaften Hochhausträume nach dem Fall der Mauer, wie Hans Kollhoffs Alexander­platz-Entwurf, jahrelang auf Eis, weil in Berlin niemand Hochhäuser brauchte. Anfang 2017 kündigte der rot-rot-grüne Senat einen Hochhaus­entwicklungsplan an, der Eignungszonen festlegen soll. „Die große Attraktivität Berlins führt zu einem hohen Nachfragedruck auf bebaubare Flächen in Berlin“, so die Begründung des Antrags. Ein Wildwuchs von Hochhäusern solle aber vermieden werden. Eine gute Idee, denn aufgrund seiner ausufernden, heterogenen Struktur wurden Hochhäuser in Berlin bisher entweder gar nicht oder eher willkürlich verstreut errichtet. Erst in den letzten Jahren hat sich mit der City West am Bahnhof Zoo so etwas wie ein innerstädtischer Cluster herausgebildet. 19 Hochhausprojekte in Berlin sind im Entstehen, eine überschaubare Menge für eine Fast-Viermillionenstadt.

Londoner Turmdebatten

Weitaus dramatischer sieht die Situation in London aus: 455 Hochhausprojekte sind hier momentan bewilligt, eine schier unglaubliche Zahl. Als der Bezirk Westminster im Frühjahr 2017 seine Beschränkungen für Hochhäuser erheblich lockerte, fürchten viele um das traditionell von niedrigen Höhen geprägte Londoner Stadtbild. Die Londoner City hat ihr Gesicht in den letzten 15 Jahren so rapide verändert wie noch nie seit dem großen Brand von 1666. Das wohl umstrittenste Projekt ist Rafael Vinolys 20 Fenchurch Street, aufgrund seiner Form „Walkie Talkie“ genannt. Per Sondergenehmigung außerhalb der vorgeschriebenen Hochhauszone errichtet, ragt es heute wie ein präpotenter Polizeiknüppel ins Stadtbild, seine architektonische Banalität wird durch die freistehende Lage erst recht schmerzhaft spürbar. 

Die Begründung des damaligen Chefstadtplaners Peter Rees für die Sondergenehmigung: Es sei ja gerade großartig, dass der Vinoly-Turm außerhalb des Hochhausclusters stünde, denn dadurch käme dieser in seiner Clusterhaftigkeit ja erst richtig zur Geltung. Mit dieser einfallsreichen Begründung ließe sich natürlich eine endlose Domino-Reihe neuer Hochhäuser begründen, von denen man auf das jeweils vorherige blicken kann.

Bürgermeister Sadiq Khans neuer „London Plan“ sieht vor, dass Hochhäuser ihre Umgebung nicht „nachteilig beeinflussen“ sollen – ein Begriff, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Bei einer Podiumsdiskussion Anfang Mai im Royal Institute of British Architects (RIBA) forderte ­Sunand Prasad, ehemaliger RIBA-Präsident, ein komplettes Moratorium für Hochhäuser. Man müsse sich zuerst darüber klar werden, warum man solche überhaupt wolle und sich auf einen tragbaren Plan einigen. Die heutigen Rahmenbedingungen wie Sichtachsen seien völlig unzureichend. Auch der Blick in den Himmel sei eine wichtige städtische Ressource, die es zu schützen gelte. Barbara Weiss von der Plattform Skyline Campaign kritisierte, der „London Plan“ formuliere zwar Ziele, mit denen man sich identifizieren könne, sei aber voller Lücken, die Investoren ausnutzen könnten. Der oft beteuerte Beitrag zur Behebung der Wohnungskrise sei nur Augenwischerei, denn Hochhäuser würden praktisch nichts zu deren Lösung beitragen.

Was ein Hochhaus architektonisch leisten kann, wenn es auf Restriktionen wie Denkmalschutz und lokales Klima reagiert, zeigt der ­Torre Reforma, das höchste Haus in Mexico City, von Benjamin Romano (LB&R Arquitectos). Das scharfkantige Prisma wurde zur Sonnenseite mit Beton abgeschirmt und macht mit seinem schlanken Fußabdruck einem Altbau auf demselben Grundstück Platz. „Der Altbestand wurde erhalten, hydraulisch neu positioniert, saniert und in des Hochhauskonzept einbezogen – was würden dazu europäische Denkmalschützer sagen?“, so Volker Dienst von architektur in progress, wo Benjamin Romano am 23. Mai zu Gast war.

Kein Herumeiern

Was ist die Lektion daraus? Nicht mehr als ein einfacher Wunsch nach Kompetenz und Mut in den Planungsbehörden, die klare Regeln aufstellen, zu denen sie stehen und die sie offen diskutieren. Die Demokratie bietet dazu genügend Möglichkeiten, wenn man sie nur nutzen will. Abwartendes Herumeiern kann keine Lösung sein, weder für die Öffentlichkeit, noch für Investoren.

Denn eine Diskussion um Hochhäuser ist immer auch eine Diskussion um Stadtwachstum und Stadtveränderung. Hochhäuser sind für dieses Wachstum das sichtbarste Indiz, und deswegen werden sie auch in der Öffentlichkeit am heftigsten diskutiert. Sie sind aber keineswegs die einzig mögliche Lösung. Um die bestmögliche herauszufinden, müsste man eine lebhafte und konstruktive Debatte darüber führen, welches Stadtbild man in Zukunft haben will. Konstruktiv ist das nur möglich, wenn nicht nur mit der aus der akuten Dringlichkeit resultierenden Aufgeregtheit über Einzelprojekte diskutiert wird. Denn eine Stadt ist keine Summe von Einzelprojekten. 

 

Erschienen in: 
Architektur & Bau FORUM 5/2017