Vom Broadway zum Radweg

Die USA entdecken die Innenstädte und öffentlichen Räume wieder. Ganz vorne dabei: New York, wo man heftigst über das Fahrradfahren diskutiert.

Bill Cunningham kann man guten Gewissens als Original bezeichnen. Seit über vier Jahrzehnten knipst der jungenhaft wirkende 82jährige, stets in einen blauen Arbeitskittel gekleidet, als Modefotograf für die New York Times auf Manhattans Straßen Passanten, deren vermeintliche Alltagsmode kurz darauf regelmäßig zum weltweiten Trend wird. Originaler noch: Er bewegt sich durch diese Straßen ausschließlich auf dem Fahrrad, eine Fortbewegungsart, die im Big Apple allenfalls als schrullig, vor allem jedoch als selbstmörderisch galt. Jedenfalls bis vor kurzem. Denn Bill Cunningham ist nicht mehr alleine.

Über 400 Kilometer Radwege hat die energische Verkehrsstadträtin Janette Sadik-Khan seit ihrem Amtsantritt 2007 durch die Stadt legen lassen, und keineswegs nur Freizeitstrecken in den Suburbs: Kreuz und quer durchs chaotische Manhattan wurden grüne Streifen auf den Asphalt gemalt, ein Bike-Sharing-System wird 2012 folgen. Seit 2000 hat sich die Anzahl der Radfahrer mehr als verdoppelt. Die Radoffensive ist Teil des ambitionierten PlaNYC-Programms von Bürgermeister Michael Bloomberg, mit dem unter anderem die CO2-Emissionen New Yorks bis 2013 um 30% gesenkt werden sollen.

Seitdem laufen die Debatten auf vollen Touren. Kein Wunder in einer Stadt, in der jeder Quadratmeter Straßenraum kostbar ist. Die Zeitungen veröffentlichen im Wochenrhythmus seitenlange Hymnen oder Tiraden. Der Kolumnist des New Yorker klagte, wenn er abends mit seinem alten Jaguar nach Manhattan zum Essen fahre, finde er nun keinen Parkplatz mehr. Der europaerfahrene Architekturkritiker der New York Times radelte derweil im Tandem mit der Verkehrsstadträtin stundenlang euphorisiert durch die Stadt. Der Ex-Talking-Heads-Sänger und bekennende Fahrradfan David Byrne tat es ihm gleich.

 Die Gegner wittern Platz- und Geldverschwendung. Die Befürworter verweisen darauf, dass das gesamte 16-Millionen-Dollar-Radwegeprogramm gerade mal ein Dreißigstel der Sanierung der Brooklyn Bridge kostet. Die Radler schwärmen von besserer Luft und einer völlig neuen Stadterfahrung, die Gegner verfallen in mitunter bizarre Nostalgie und sehnen sich zurück nach ihrer Großstadtkindheit zwischen Spritzen, Ruß und Abgasen, als noch nicht alles so grün, so sicher und so langweilig war.

Kein Wunder:_Fahrradfahren als Massenphönomen ist in einem Land, das seit Jahrzehnten komplett auf das Auto zugeschnitten ist, etwas völlig Neues, selbst im progressiven New York. Mit typisch amerikanischem Enthusiasmus will man jetzt den Rückstand aufholen.

Grüner als grün

„Ich habe den Eindruck, Amerika will im Moment so grün sein, dass es grüner nicht geht“, vermutet auch Architekt Gerhard Abel vom Wiener Büro plan.net architects. Wenn es nach ihm geht, wird es sogar noch viel grüner: Sein Büro gewann im September den Ideenwettbewerb „Closing The Gap“ zur Vervollständigung des letzten noch fehlenden Stücks Uferweg um Manhattan - den East River Greenway.

Der Wunsch, dem durch eine Stadtautobahn vom Wasser abgeschnittenen Viertel den dringend benötigten Freiraum zu verschaffen, war 18 Jahre lang unerfüllt geblieben. Durch den lukrativen Verkauf eines städtischen Grundstücks an die UNO rückt der Plan nun in greifbare Nähe. Die Wiener Architekten gingen gleich in die Vollen: Sie schlugen vor, den gesamten Arm des East River als Strömungskraftwerk zu nutzen und mit einem Park inklusive See zu überplatten. Nicht nur lückenloses Radeln um die Insel also, sondern noch dazu surfen im Schatten des Chrysler Building, und danach mit der Expressfähre zum Flughafen.

„Wir wollten eine große Lösung“, sagt Gerhard Abel. Von Realisierung ist zwar noch keine Rede, aber im grünbegeisterten New York scheint zur Zeit vieles möglich. Der sensationelle, weltweit publizierte Erfolg des High Line Parks auf einem ehemaligen Bahnviadukt im Meat Packing District hat nicht nur Öko-Bohemiens und Designer begeistert, sondern auch Dollarzeichen in den Augen von Immobilien-Developern aufblühen lassen. Rechts und links des Parks gentrifizieren sich die Stadtviertel in Lichtgeschwindigkeit, für die Umsetzung des dritten  Abschnitts gab es diesen Herbst grünes Licht.

Ein paar Blocks weiter führte die heftig umstrittene Sperrung des Times Square  für den Verkehr vor zwei Jahren entgegen aller Verödungs-Unkenrufe dazu, dass dieser heute zu den 10 begehrtesten Geschäftslagen des Planeten zählt, mit Mieten um die 10.000 Euro pro Quadratmeter.

Detroit als Fanal

„Der öffentliche Raum war bisher immer ein Stiefkind in den USA. Aber jetzt ist der ideale Zeitpunkt, das wollen alle ausnützen“, sagt Gerhard Abel. Nicht nur in New York: Die grün gefärbte Wiederentdeckung der Stadt ist ein landesweiter Trend. Das Fanal Detroit vor Augen, dessen Zentrum nach dem_Niedergang der Autoindustrie zur Geisterstadt verkommen ist, suchen amerikanische Städte nach jeder Möglichkeit, zukunftsfähig und lebenswert zu bleiben.

So hat etwa Minneapolis trotz seiner eisig-kontinentalen Winter inzwischen den zweithöchsten Anteil an Fahrradpendlern in den Staaten. San Francisco testet seit 2010 ein intelligentes elektronisches Parksystem, das Autofahrer auf freie Plätze hinweist und Parkgebühren in Echtzeit nach Nachfrage regelt. Und am MIT erforscht Carlo Ratti, wie die Stadt und Stadtbenutzer wie ein Gesamtorganismus via Sensorik laufend Informationen austauschen können, die beiden weiterhelfen.

 Doch nicht alle profitieren von dieser zukunftsgewissen, abgasfreien Hightech-Welt: Auf der medialen Seite sezieren realistische und innovative Fernsehserien wie The Wire und Treme das komplexe soziale Geflecht vom Niedergang gebeutelter Städte wie Baltimore und New Orleans. Und zurück in New York zeigen die am High Line Park entzündeten Debatten über die Aufwertung der letzten leistbaren Wohnviertel, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den Städten immer weiter auseinanderklafft. Nur mit umgekehrten Vorzeichen: Heute sind es die begehrten Innenstädte, die für viele unbezahlbar werden, während die Suburbs am absteigenden Ast sind.

Für weitere heiße Debatten ist also gesorgt. Immerhin: Die Occupy-Bewegung zeigt, dass der Stadtraum mehr sein kann als sterile Plazas zwischen Highways. Nämlich ein politischer Raum.

 

(erschienen in: Der Standard, 17./18.12.2011)