Die japanische Pritzkerpreisträgerin Kazuyo Sejima, die ab Herbst Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien sein wird, achtet mit ihren Bauten die Umwelt auf ganz eigene Weise, wie sie im Interview erklärt
Seit 1995 leitet Kazuyo Sejima mit ihrem Partner Ryue Nishizawa das Büro SANAA. 2010 wurde ihnen gemeinsam der Pritzkerpreis verliehen. Ihre Bauten wie das Museum des 21. Jahrhunderts in Kanazawa, das New Museum in New York oder die kleinen Kunsträume, die sie in einem Langzeitprojekt auf der Insel Inujima verteilt, zeichnen sich durch Helligkeit und Leichtigkeit aus und scheinen manchmal ganz in der Landschaft verschwinden zu wollen. Diese Woche war Kazuyo Sejima als Ehrenpräsidentin der Jury des Blue Award in Wien.
Der dieses Jahr zum vierten Mal vergebene, von der TU Wien ausgeschriebene internationale Studentenwettbewerb zeichnet Beiträge zur Nachhaltigkeit in Architektur und Stadtplanung aus, der Gewinner des Blue Award 2016 wird im August bekanntgegeben. Mit dem STANDARD sprach Kazuyo Sejima, die ab Herbst eine ordentliche Professur an der Wiener Universität für angewandte Kunst antreten wird, über die japanische Art des nachhaltigen Bauens und die Harmonie von Haus und Umgebung.
In den letzten Jahren hat die japanische Architektur mit winzigen, aber revolutionären Einzelhäusern Aufsehen erregt, die von innen viel größer wirken als von außen und oft ohne abgeschlossene Zimmer auskommen. Andererseits ist das Einfamilienhaus nicht die nachhaltigste aller Bauformen. Ein Widerspruch?
Sejima: Aus europäischer Sicht mag das stimmen. Aber so einfach ist es nicht. In Japan gab es schon immer ein Gleichgewicht zwischen dem Haus und seinen Ressourcen. Wir benützen leichte Materialien, die einfach zu transportieren sind. Wenn die Lebensspanne eines Hauses endet, lassen sie sich gut recyclen. Die Wände sind sehr dünn, weil wir kaum Wärmedämmung benützen. Das schwüle Sommerklima in Japan erfordert gute Belüftung. Hier in Europa bauen Sie in den Häusern schwere Türen ein – wie diese hier! (deutet zur Tür). Eine solche Tür finden Sie in Japan fast nirgends. Unsere Gebäude sind nicht luftdicht. Das heißt: Wir denken auf ganz andere Weise über Umwelt und Energie nach.
Ihre Häuser auf der Insel Inujima verwenden traditionelle Holzkonstruktionen. Spielt der Holzbau noch eine tragende Rolle in Japan?
Sejima: In der Edo-Periode wurde in Japan noch überall mit Holz gebaut. Dann brannten die Häuser alle zehn Jahre ab und wurden wieder aufgebaut. Die Wirtschaft hat also vom Feuer profitiert. Heute produzieren viele japanische Firmen von der Regierung subventionierte Häuser, die 100 Jahre halten sollen. Das sind aber keine Holzhäuser mehr.
Ist für nachhaltiges Bauen Hightech oder Lowtech der bessere Ansatz?
Sejima: Das ist schwierig zu trennen. Was wir heute Hightech nennen, ist in ein paar Jahren schon wieder veraltet. Wir sollten über Technologien nachdenken, aber uns dabei immer der Zeit bewusst sein, in der wir leben.
2010 waren Sie Direktorin der Architekturbiennale Venedig, als deren Motto Sie "People meet in architecture" wählten. Wie wichtig ist der menschliche Faktor für nachhaltige Architektur?
Sejima: Es ist wichtig, die Nachhaltigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten – etwa ökologische und kulturelle Aspekte, aber auch das Verhältnis des eigenen Körpers zum Raum ist. Was den menschlichen Faktor betrifft: Früher war Japan gesellschaftlich sehr homogen, es gab wenige ganz Reiche und wenige ganz Arme. Heute geht die Schere auseinander. Aber es gibt positive Entwicklungen: Ältere japanische Ehepaare, die nach dem Auszug ihrer Kinder allein wohnen, fangen an, arme Kinder zu sich einzuladen, um zusammen zu essen.
Ihre Herangehensweise an Architektur ist von der Suche nach der Harmonie zwischen Gebäude und Umgebung geprägt. Wie erreicht man diese Harmonie?
Sejima: Dabei sind vor allem zwei Dinge zu beachten: erstens die Beziehung zwischen innen und außen. Ich will keine schwarzen Kisten bauen, bei denen sich niemand vorstellen kann, was drinnen passiert, und die Leute drinnen nicht registrieren, was draußen passiert; zweitens die Bewegung durch den Raum. Erst wenn man ein Gebäude durchwandert, versteht man es, sowohl in seiner Funktion als auch in seiner Gestalt als Ganzes.
Wie in Ihrem 2010 fertiggestellten Rolex Learning Center der Polytechnischen Hochschule in Lausanne, das als riesiges, offenes Raumkontinuum zum Wandern, Sitzen, Liegen und Schauen einlädt.
Sejima: Genau. Aber seitdem hat sich unsere Architektur wieder verändert. Heute denken wir mehr über das Verhältnis zwischen Gebäude und Umgebung nach. Zuerst schauen wir uns diese Umgebung ganz genau an, dann überlegen wir uns, in welcher Beziehung zur Außenwelt jeder einzelne Innenraum stehen soll – ob er auf ein Nachbargebäude, einen Baum oder einen Hof schaut. Irgendwann begannen wir, unsere Gebäude in einzelne kleinere Volumen aufzuteilen, damit jeder Raum ganz für sich mit seiner Umgebung kommunizieren kann.
Wie zeigt sich das?
Sejima: Zum Beispiel bei unserem Nishinoyama-Projekt in Kioto. Es ist ein Haus für zehn Familien, wir wollten aber nicht einfach zehn Einzelhäuser bauen. Also haben wir zuerst eine Variante entworfen, in dem wir jedes Zimmer zu einem Haus machten. Das ergab 70 Häuser – das passte aber nicht mehr zur Nachbarbebauung. Jetzt sind es 21 Dächer, unter denen sich die Zimmer und Innenhöfe frei verteilen.
Also ein Gebäude, das wie ein Dorf funktioniert?
Sejima: Könnte man sagen. Es hat aber auch mit der Stadt zu tun: Die traditionellen Häuser in Kioto haben alle Innenhöfe. Eine sehr besondere Raumerfahrung! Das wollten wir bei unserem Projekt wieder aufgreifen.
Das heißt, alle Ihre Bauten sind stark mit dem Ort verflochten, an dem sie stehen. Andere Architekten, etwa Ihr Landsmann Shigeru Ban, der Leichtbaukonstruktionen für Notunterkünfte konzipiert, bauen Prototypen, die überall stehen können. Könnten Sie sich vorstellen, ein Haus zu entwerfen, das überall stehen könnte?
Sejima: Ich habe gerade einen Expresszug entworfen, dessen Außenhaut die Landschaft reflektiert. Eine sehr spezielle Aufgabe, denn ein Zug ist etwas anderes als ein Auto. Autotypen werden in Stückzahlen von Zehn- oder Hunderttausenden produziert, einen Zugtyp gibt es vielleicht 20- oder 30-mal. Das bietet die Möglichkeit, auch handwerkliche Details zu integrieren. Ein Stück Architektur gibt es immer genau ein Mal. Allerdings gibt es vor allem in Tokio viele Bauten, die wie ein Zug oder ein Auto entworfen wurden – als anonyme Serienprodukte. Prototypen sind sinnvoll, aber es müssen gute Prototypen sein.
Anders als bei vielen anderen Stararchitekten betonen Ihre Bauten das Horizontale. Übt ein Wolkenkratzer keinen Reiz für Sie aus?
Sejima: Das New Museum in Manhattan ist zumindest ein Hochhaus! Ein Wolkenkratzer wäre sicher eine spannende Aufgabe, aber beurteilen kann ich das nur, wenn ich den Ort und die Funktion weiß. Ansonsten ist es nur eine abstrakte Idee, und das ist nicht die Art, wie ich über Architektur nachdenke.
Im Herbst werden Sie Ihre ordentliche Professur an der Universität für angewandte Kunst übernehmen. Welche Architektur-Denkweise werden Sie den Studenten vermitteln?
Sejima: Ich möchte als Lehrerin die Rolle der Architekten in der heutigen Zeit überdenken, und mit den Studenten eine Zukunft für die Architektur und für unsere Städte erschaffen. Ich bin froh, diese Gelegenheit zu haben.