Der diesjährige Londoner Serpentine Pavillon von Herzog & de Meuron und Ai Weiwei oszilliert zwischen Schalk und Selbstreferenzialität
Das seltsam niedrige Dach, das im morgendlichen Nieselregen des Hyde Park auftaucht, könnte man auf den ersten Blick für ein behelfsmäßigen Unterstand für triefende Jogger halten. Diese Funktion erfüllt es zwar problemlos, in erster Linie aber handelt es sich hier um den diesjährigen Serpentine Pavillon, den die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron zusammen mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei errichtet haben. Es ist der mittlerweile zwölfte in der Reihe.
Nachdem Zaha Hadid zur Zeit der britischen Milleniumseuphorie im Jahr 2000 eine flugs zusammengeschusterte, nur für die Dauer eine Woche geplante Überdachung für ein Galadinner auf dem Rasen vor der Serpentine Gallery erdachte, haben die Londoner Gefallen an Stararchitektur gefunden. Vorausgesetzt, sie lässt sich nach einem Sommer wieder diskret entsorgen. Seitdem beauftragt Direktorin Julia Peyton-Jones Jahr für Jahr einen berühmten Architekten, der in England noch kein Projekt realisiert hat, mit der Errichtung des kleinen Pavillons. Maximal sechs Monate Zeit bleiben für Idee, Planung und Bau.
Das zarte, fast unsichtbare Dach, das die japanischen Pritzker-Preisträger SANAA 2009 zwischen den Bäumen durchschlängeln ließen, war darunter eines der gelungensten und beliebtesten. Ähnlich meditativ ging Peter Zumthor vor, der voriges Jahr ein streng abgeschirmtes Rechteck als blühenden Hortus conclusus in den Park stellte. Andere, wie Frank Gehry mit seinem schwerfälligen Holzbalkenmikado und Jean Nouvel mit flamboyant aufgefalteter, knallroter Dachlandschaft, waren am expressiven Ende des Spektrums zugange. Die meisten Pavillons wurden danach anonym ersteigert und verschwanden in Privatgärten.
Programmierter Schalk
Anstatt nun ein weiteres temporäres Juwel in diese Ahnengalerie zu setzen, ließen sich die sonst spröden Schweizer Herzog & de Meuron von Ai Weiwei, mit dem sie schon beim Olympiastadion Peking und auf der Biennale Venedig zusammengearbeitet hatten, zum programmatischen Schalk verführen. Unter dem 300 Quadratmeter großen ovalen, wassergefluteten Dach, das gerade eineinhalb Meter über den Grashalmen schwebt, gruben sie wie Archäologen in die Tiefe.
"Es sind schon so viele Pavillons in so vielen Materialien und Formen erdacht worden. Anstatt dasselbe zu tun, sind wir bis zum Grundwasser in die Erde gegangen, und haben alte Spuren wie Fundamente und Kabelstränge entdeckt - Überbleibsel der letzten Pavillons", erklären die Designer. Die Umrisse dieser Spuren wurden nachgezeichnet, überlagert, und einheitlich verkleidet - mit dichtgepresstem portugiesischem Kork. Eine eigenartig weiche Treppenlandschaft, die unter dem Dach ins Dunkel abtaucht. Man fühlt sich eher an ein Kinderfreilufttheater als an hehre Kunst erinnert, aber das mag von den listigen Erbauern beabsichtigt sein.
Schließlich ist auch die Sache mit den alten Fundamenten Unfug, denn die Leichtkonstruktionen der bisherigen Pavillons sind allesamt spurenlos beseitigt worden. Eine schöne Geschichte ist es trotzdem. Ob man sie als Kommentar zur Tendenz, jedes noch so kleine Werk von Stararchitekten auf ein Podest zu heben, deutet oder als ratlose Selbstreferenzialität, bleibt dem Besucher überlassen. Zeit zum Betrachten gibt es im Londoner Regenwetter genug.
(erschienen in: Der Standard, 1.8.2012)