Stadtentwicklung mit offenem Ende

In Urban Living Labs werden Städte in offenen Prozessen mit allen Beteiligten vor Ort entwickelt. Doch manchmal ist "Lab " nicht mehr als ein Schlagwort

Der Grazer Stadtteil Gries gilt gern als Problembezirk. Doch nicht jeder sieht das so. Zum Beispiel die Bewohner. Sie leben ganz gern hier und sind auch stolz darauf, wie Thomas Drage von der Stadtbaudirektion Graz berichtet. Inzwischen ist Gries nicht nur ein Bezirk, sondern auch ein Labor, und zwar ein reales, lebendiges. Das Experiment "Living Lab", von der Stadt gemeinsam mit der Karl-Franzens-Universität und der TU Graz initiiert, will die Menschen vor Ort als gleichberechtigte Teilnehmer der Stadtentwicklung ins Boot holen. Stadtteilbüro, Workshops, Entwurfswettbewerbe für die Gestaltung des Griesplatzes.

Seit 2014 beschäftigt sich die Stadt Graz mit Multistakeholderprozessen, 2015 führte Graz als erste Stadt in Österreich Leitlinien für die Bürgerbeteiligung bei Vorhaben der Stadt ein. Auch die Stadtverwaltung selbst ist Teil eines Governance Lab, mit dem Leitbild von Optimierung und Transparenz. Urban Living Labs, zu Deutsch: Reallabore, lautet der Überbegriff für solche offenen Prozesse, die "draußen", also unter nicht kontrollierten Bedingungen, ablaufen. Einige davon wurden vorige Woche auf der dreitägigen Urban Future Global Conference in Wien präsentiert.

In Österreich werden fünf davon staatlich gefördert, alle zum Thema Mobilität: in Wien das Aspern mobil Lab in der Seestadt und der Thinkport im Hafen, das Mobilitätslabor "Graz grenzenlos" in der Stadtregion Graz, das MobiLab OÖ im Korridor Linz-Steyr-Wels, das Urbane Mobilitätslabor Salzburg. "Normalerweise dauern Forschungsprojekte ein bis drei Jahre, dann dauert es noch einmal einige Jahre, bis sie implementiert werden. Bis dahin sind die Ideen vom Anfang oft schon vergessen", erklärte Hans-Günther Schwarz vom Verkehrsministerium. "Das Ziel der Living Labs ist es, mehr Kontinuität über längere Zeiträume zu erreichen."

Doch es muss nicht unbedingt Mobilität sein, wenn es um Urban Living Labs geht. Manche entstehen eher zufällig an einem konkreten Ort. Etwa in Rotterdam, wo 2010 das riesige Spaßbad Tropicana, direkt am Ufer der Maas gelegen, wegen Sicherheitsmängeln dichtmachte. Eine Top-Lage in der Stadt, die Investoren wurden hellhörig. Doch nicht sie kamen zum Zug, sondern eine Gruppe, die sich der "circular economy" verschrieben hatte. Die Stadt Rotterdam war begeistert, heute beherbergt sie das Blue City Lab, ein Netzwerk von Start-ups, die aufeinander aufbauen: So züchten die einen auf dem Kaffeesud des Cafés der anderen Austernpilze, die dann wiederum im Café auf dem Teller landen.

Eine praktische Hilfe bei der Durchführung von Reallaboren wurde im Zuge von urb@Exp, einem Programm der Städte Graz, Leoben, Maastricht, Antwerpen und Malmö, entwickelt: Deren Lab-Kit ist eine handgefertigte Box aus Karton und beinhaltet eine Reihe von Kärtchen mit Fragen, die während eines Urban Lab beantwortet werden sollen. Die erste Fragenreihe behandelt die Gesamtstrategie, in der zweiten geht es darum, wer welche Aufgaben übernimmt, in der dritten um die langfristige Entwicklung.

Doch nicht alle scheinen sich diese wesentlichen Fragen zu stellen. Das Bike-Sharing-System oBike war zwar im Heimatland Singapur ein Erfolg, doch der Export in Städte, die schon eine weit entwickelte Fahrradkultur haben, war weniger erfolgreich. Instagram-Accounts wie "sad_obikes" oder "obikesofmelbourne" zeigen Fotos von entsorgten oder versenkten oBikes von Melbourne bis Amsterdam. Auch in Wien sorgen die Leihräder seit Monaten durch regelmäßigen Vandalismus für Ärger, eines landete bereits auf den Gleisen der U4, andere im Donaukanal. Der Vorteil von Living Labs, so Tim von Wirth von der Erasmus-Universität Rotterdam in seiner Keynote auf der Urban Future Conference, sei, dass durch Einbeziehung vieler verschiedener Stakeholder Grenzen überschritten werden und Lerneffekte entstehen und sich Gewohnheiten ändern könnten. Der Nachteil: Stadtverwaltungen seien oft dazu verleitet, "verrückte" Experimente bequem in Reallabore auszulagern und selbst weiterzumachen wie bisher. Zudem seien Reallabore aufgrund ihrer diffusen Struktur schwer zu evaluieren, erst recht, wenn unklar ist, wer von den Beteiligten die Verantwortung übernimmt.

Was auch daran liegen könnte, dass noch niemand so ganz genau weiß, was Urban Living Labs eigentlich sind. Denn was haben die Bürgerbeteiligung in Graz-Gries, ein Spaßbad in Rotterdam und Fahrräder aus Singapur gemeinsam? Sind sie wirklich alle Urban Living Labs? In der Tat ist der Begriff, ähnlich wie Smart City, von schwer greifbarer Wolkigkeit, ein lässig klingendes Schlagwort. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie, die Kris Steen und Ellen van Bueren 2017 im "Technology Innovation Management Review" publizierten. Der Begriff Urban Living Lab sei oft austauschbar mit ähnlich überzeitgemäß klingenden Labels wie "Incubator", "Making Space" oder "Hub".

Um dem Begriff auf die Spur zu kommen, durchforsteten Steen und van Bueren eine Fülle an Literatur und erstellten daraus einen neun Punkte umfassenden Kriterienkatalog für Living Labs. Eine der wichtigsten Eigenschaften sei, dass im Reallabor Lösungen gemeinsam mit den Benutzern und Bewohnern gesucht würden, anstatt diese nur als Testpersonen zu missbrauchen. Eine Analyse von 90 Projekten in Amsterdam, die sich offene Prozesse in der Stadtentwicklung auf die Fahnen geschrieben hatten, kam zu einem überraschenden Ergebnis: Nur zwölf dieser Projekte erfüllten alle neun Kriterien für Urban Labs – ironischerweise vor allem die, die das Wort "Lab" nicht im Titel trugen. Nur fünf der 28 Projekte mit "Lab" im Namen erfüllten die Kriterien. Oft sei es den Beteiligten am Anfang überhaupt nicht klar, was in einem Living Lab überhaupt von ihnen erwartet werde, so die Autoren. Stadtentwicklung als offener und transparenter Prozess: Das wünscht sich fast jeder. Doch wenn die Offenheit in eine vage Wolke des Irgendwie verpufft, hilft auch das schickste Label nicht weiter.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 14.3.2018