Spröde und reichhaltig: Die Architektur der "anderen Moderne" in Innsbruck

Den deutschen Architekten Hans Döllgast und Rudolf Schwarz kann man zurzeit in Innsbruck in den Fotografien von Klaus Kinold nachspüren

Was ist "moderne Architektur"? Eine breite Umfrage würde mit Sicherheit folgende Mehrheitsmeinung ergeben: Bauhaus, weiße Kuben oder solche aus Beton, global austauschbar. Das ist nicht ganz falsch. Doch was heute unter dem Begriff verstanden wird, ist keine historische Zwangsläufigkeit und wurde nicht per Plebiszit entschieden. Es ist das Ergebnis eines Streits um die Deutungshoheit.

Als der deutsche Architekt Rudolf Schwarz (1897-1961) im Jänner 1953 in der Zeitschrift Baukunst und Werkform den Artikel "Bilde Künstler, rede nicht" veröffentlichte, in dem er mit Walter Gropius und der von ihm vertretenen Moderne scharf abrechnete, entbrannte eine Debatte, die später als "Bauhaus-Streit" in die Geschichte einging. "Übertreibende ästhetische Technizisten, als unbrauchbare Ideologen sowie vorlaute und aufgeregte Terroristen" seien die rationalen Funktionalisten, so Schwarz. Das Bauhaus habe das "abendländische Gespräch" zum Verstummen gebracht. Das Steuer der Deutungshoheit konnte Schwarz trotzdem nicht herumreißen. Gropius wird bis heute mit dem Bauhaus identifiziert, und dieses mit dem Begriff der Moderne – eine Personalunion, an der der PR-gewiefte Gropius seit den 1920er-Jahren aktiv mitgewirkt hatte.

Die Bauhaus-Debatte ist heute weitgehend vergessen. Der konservative und zutiefst gläubige Rudolf Schwarz ist heute vor allem durch seine zahlreichen Kirchenbauten bekannt, die in ihrer reduzierten Strenge alles andere als unmodern sind. Darunter auch Kirchenbauten in Österreich wie St. Theresia in Linz (1962) und St. Florian in Wien (1963), die nach seinem Tod von seiner Witwe, der Architektin Maria Schwarz, finalisiert wurden. Doch seine Rolle ging weit über das Sakrale hinaus: Von 1946 bis 1952 war er als Generalplaner für den Wiederaufbau von Köln zuständig und verfolgte dort sein Ideal einer geschichtsbewussten Rekonstruktion.

Während in den Zeitschriften die Bauhaus-Debatte tobte, stand in München ein anderer Architekt im Kreuzfeuer. Hans Döllgast (1891-1974) hatte sich gemeinsam mit seinen Studenten vehement gegen den geplanten Abriss der schwer beschädigten Alten Pinakothek gewehrt und für ein minimales Budget den Auftrag zur Rekonstruktion erhalten. Diese war so ungewöhnlich wie radikal: ein rohes Mauerwerk, das die Lücke in der Fassade vervollständigte, ohne die Zerstörung zu übertünchen. Eine Architektur des Kontinuums, die gleichzeitig massive Änderungen vornahm, wie die ergreifend schöne Hauptstiege an der Längsseite, die das Innere des Museums komplett umorganisierte. Eine Architektur des Wiederaufbaus, die damals von allen Seiten angefeindet wurde: Die Denkmalschützer wollten das Original in alter Pracht, den Architekten war es zu wenig Architektur, und sichtbar belassene Einschusslöcher waren im Wirtschaftswunder-München der 50er-Jahre gar nicht gern gesehen. David Chipperfield, der ein halbes Jahrhundert später mit seiner Rekonstruktion des Neuen Museums in Berlin einen ebenso forensisch-peniblen wie erfindungsreichen Umgang mit geschichtsbeschädigter Bausubstanz verfolgte, dürfte sich Döllgasts Werk sehr genau angeschaut haben.

Hans Döllgast und Rudolf Schwarz stehen für die "andere Moderne", eine, die zugleich zurück- und vorausblickt: Geschichtsbewusstsein statt Tabula rasa, raue Materialien statt Stahl und Glas, Humanismus statt Bauwirtschaftsfunktionalismus, Fragen statt Auftrumpfen. Eine Architektur, die, um Hermann Czech zu paraphrasieren, "nur spricht, wenn sie gefragt wird", die auf den ersten Blick spröde wirkt und auf den zweiten Blick reichhaltig ist.

Eine Auswahl dieser Bauten ist zurzeit in einer Ausstellung des aut und des Archivs für Baukunst in Innsbruck zu sehen. Gezeigt werden sie in Bildern des deutschen Architekturfotografen Klaus Kinold. Ein Glücksfall: Nur selten passen Architektur und Fotografie so perfekt zusammen wie hier. Es mag daran liegen, dass Klaus Kinold selbst Architektur studierte: Seine Bilder wollen das Gebaute erklären, sie sind Dienstleistung am Objekt. So wie Hans Döllgast erst den Bauplatz skizzierte, bevor er zu entwerfen begann, studiert Kinold erst die die Baupläne und die Umgebung eines Gebäudes, bevor er es in wenigen wohlüberlegten und konsequent analogen Bildern festhält. 

"Die Architektur darstellen, wie sie ist", lautet sein Credo. Kein Weitwinkel, der Räume größer erscheinen lässt, als sie sind. "Es geht nicht um den Fotografen hinter der Kamera, sondern um die Architektur vor der Kamera", sagt er zum STANDARD. "Es ist wie Pflicht und Kür. Ich muss das Wesentliche abbilden. Eingang, Stiegenhaus, die wichtigsten Räume. Dann erst kann ich mich, wenn es unbedingt sein muss, persönlich und künstlerisch verwirklichen. "Die "Pflicht" ist in Kinolds Fotografien schon so perfektioniert, dass es keine Kür mehr braucht. Hier wird nichts dramatisiert und zugespitzt. Es sind Bilder von objektiver Sachlichkeit, bei denen die Person des Fotografen nahezu verschwindet. Die meisten in Schwarzweiß, um, wie Kinold sagt, den Betrachter dazu anzuregen, das Fehlende im Kopf zu ergänzen. Es sind Bilder, die gelesen werden wollen, ebenso wie die Bauten, die sie abbilden. Manche sind bei aller sorgfältig austarierten Ruhe von einer enormen Informationsdichte, weil es ihnen gelingt, Material, Konstruktion und Licht in gleichem Maße in den Vordergrund zu holen.

"Döllgast und Schwarz haben sehr ähnliche Biografien", sagt Arno Ritter, Leiter des aut, "beide waren kritische Geister innerhalb der Moderne." Beide stehen heute in Deutschland in zweiter Reihe der architektonischen Geschichtsschreibung, mehr noch als ihre österreichischen Äquivalente Josef Frank, Lois Welzenbacher und Clemens Holzmeister. Die Ausstellung sei jedoch keineswegs als rein historische Abhandlung zu verstehen, so Ritter, sondern als "Intervention zum heutigen architektonischen Denken". In einer Zeit, in der das Weiterbauen am Bestand sich still und leise zu einer der stärksten Tendenzen der Architektur entwickelt und in der gleichzeitig über Austerität und Sparsamkeit geklagt wird, sind die Anregungen der anderen Moderne mehr als willkommen.

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Erschienen in: 
Der Standard, 25.3.2018