Raupen im Schneematsch
Das hat nun also alles erstaunlich gut funktioniert. Jetzt kann schon Entlegeneres, Östlicheres, Chinesischeres und Befremdlicheres kommen. Und so gerät man im mit etwa einer Million Menschen durchschnittlich belebten Pekinger Hauptbahnhof in den Zug nach Shenyang, in dem sofort ein weiteres China-Vorurteil leise zerbirst.
Die Züge sind die besten Züge der Welt, blitzschnell, leise, perfekt gefedert, mit einer völligen Abwesenheit von Pastelltönen in der Innenausstattung gesegnet, man bekommt gratis Wasserflaschen gereicht, und alle Sitze lassen sich um 180 Grad drehen, so dass man nie gegen die Fahrtrichtung sitzen muss. Esst euer Herz aus, Bahnchefs der westlichen Welt!
Shenyang liegt etwa 3 blitzschnelle Bahnstunden nordöstlich von Peking, nicht weit von der nordkoreanischen Grenze. Für ein paar Scheinchen lassen einen die nordkoreanischen Grenzbeamten kurz rüberspringen für ein Foto, erzählt Bai Tao, Teil unseres Empfangskomitees, das uns vom brandneuen Bahnhof in mit Schaffellen ausgelegten Autos ins nächstbeste Restaurant eskortiert. Es ist bitterkalt, Shenyang liegt nicht nur beinahe in Nordkorea, sondern auch beinahe in Sibirien. Das fällt umso mehr auf, wenn man bemerkt, dass in China südlich des Jangtse gar nichts und nördlich des Jangtse nur das allernötigste beheizt wird. In den Restaurants lässt man daher die Daunenjacke einfach an. Dafür wärmt das Essen hier auch mehr als in Peking, vor allem viel Lamm und Hammel, denn Shenyang liegt nicht nur beinahe in Sibirien, sondern auch beinahe in der Mongolei. Dazu Spieße mit dicken Seidenraupen. Bai Tao erklärt lachend, dass man die Raupen auf keine Fall ganz hinunterschlingen darf, sondern zuerst die Spitze abbeisst, den Chitinpanzer ausspuckt, dann aus dem Resttorso den aus unerfindlichen Gründen darin wohnenden Wurm herauszutzelt und entfernt, dann erst das weisse Fleisch aus dem Torso lutscht. Sehr viel Mühsal für etwas, das wie klumpiges Sägemehl aussieht und auch so schmeckt. Dafür sind die tausendjährigen Eier fantastisch, schmecken überraschenderweise gar nicht faulig, sondern wasabiesk frisch.
Das Schönste am chinesischen Essen aber ist das permanente Herumfingern aller in allem, man probiert, vergleicht, kommentiert, dazwischen wird immer wieder gemütlich geraucht (immer auf den Boden aschen!) und lautstark mit Schnaps angestoßen, dann nestelt man wieder an Garnelen und Hühnerfüßen herum. Am Ende sind Tisch und Boden ein verwüstetes Schlachtfeld aus Kippen, Schalen, Servietten, Schnapsteichen, herausgerupften Würmern, Eßstäbchen und halbleeren Tellern (alles aufzuessen gilt in China als unhöflich). Die sibirische Kälte ist inzwischen vergessen.
Tags darauf erzähle ich in einen Hörsaal voller dichter schwarzer Haare hinein die neuesten Neuigkeiten von Wiener Hochhäusern, ein gutes Dutzend haben wir schon und hey, eins hat nachts sogar Lichtprojektionen auf der Fassade. Nur kurz werde ich etwas nachdenklich, als ich später vom Taxi aus feststelle, dass Shenyang von mehreren brandneuen Satellitenmillionenstädten umgeben ist, die nur aus Hochhäusern bestehen, von denen jedes einzelne Lichtprojektionen an der Fassade hat.
Auf der endlosen Fahrt von der Universität in die Stadt durch grauen Schneematsch kommt irgendwann die Frage auf “Wo fliegen wir eigentlich morgen hin?” Offensichtlich besteht eine Lücke im Reiseprogramm, um die sich bisher niemand gekümmert hat.
“Nanjing soll ganz nett sein.”
“Aha, und wieso?”
“Es ist irgendwie alt und kulturell, hat eine Stadtmauer und liegt am Jangtse.”
“Gut, dann fliegen wir morgen da hin.”