Shanghai

Kräne im Lärm

Das erste, was man nach der Ankunft in Shanghai zu tun hat, ist, alle Reiseführer wegzuwerfen. Egal welche, egal wie aktuell, sie sind komplett sinnlos, weil die Angaben darin gerade mal ein paar Tage Gültigkeit haben, da das Shanghai zur Zeit komplett durch ein neues ersetzt wird. Die alte Millionenstadt gefiel ihnen wohl nicht, also haben sie sich einfach eine neue gekauft. Der tolle Xiangyang-Raubkopienflohmarkt - weg; die ganz neue Kneipenmeile - Brachland; der Gemüsemarkt - Baustelle; alles, was nicht Hochhaus ist, wird abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt, geht man zu Fuss durch Shanghai, hofft man, dass zumindest der Weg vor einem nicht in den nächsten Sekunden verschwindet wie alles andere.

Dies alles geschieht scheinbar willkürlich und planlos, und so kommt es andauernd vor, dass eine alte, völlig intakte Strassenzeile mit Freiluftbarbieren, Garküchen, Nudelsuppenaushändigungen, winzigen aber perfekt ausgestatteten Fahrradreparaturstationen und Hühnern, die auf rostigen Benzinkanistern geschlachtet werden, mitten im Nichts zwischen planiertem Brachland, neuen Wohntürmen und aufgeschickten Parks herumsteht. Wo ein Stadtviertel abgerissen wird, werden sofort mannshohe Mauern aufgestellt, bemalt mit bonbonfarbenen Werbepostern mit den üblichen strahlenden und händchenhaltenden Idealfamilien vor Immobilienwerbungskulisse. Auch hier fast ausschliesslich westliche Gesichter als Werbeträger. Was sich aber, egal ob alt, neu, aufgerissen oder werbebepostert, auf jeder Strasse findet: Menschen.

Kaum quillt man aus dem Shanghaier Hauptbahnhof in die nostalgisch stickige Luft (Atmen wie in den Seventies - solche Abgasaromen werden bei uns ja gar nicht mehr gebaut. Shrill!), denkt man: “Aha! Hier sind also die restlichen 1,27 Milliarden Chinesen, die wir bisher noch nicht getroffen haben. Ni hao, Leute!” Eine halbe Stunde Einkaufsbummel auf der Nanjing Road kann man sich ungefähr vorstellen wie eine halbe Stunde Einkaufsbummel auf der Schlacht von Königgrätz, und danach würde man gerne kurz ins Sauerstoffzelt, wenn es nur Sauerstoff gäbe. Also schleppt man sich die Nanjing Road hinunter zum Huangpu River, wo man zur Abwechslung auf eine nicht von Menschenmassen bevölkerte Fläche schauen kann (dafür gibt es eine Fähre, die nur dazu dient, ein gigantisches LCD-Werbedisplay auf dem Fluss spazierenzufahren).

Aber der Bund! Das historische Shanghai aus der mythenumrauchten Gründerzeit! Viel Gewese wird überall um den Bund gemacht, diese blöde Promenade. Sicher, die Aussicht rüber nach Pudong ist, wenn man nicht gerade die blinkende Werbefähre vor der Nase hat, eine der spektakulärsten wo gibt, aber die in den weggeworfenen Reiseführern als “glanzvolle Prachtbauten aus den 20ern” angepriesenen Dinger sind nur unförmige und unproportionierte koloniale Granitklumpen, exakt solche, wie sie auch die Londoner City verstopfen, denn die Briten haben nicht nur Opium, sondern leider auch ihren Architekturgeschmack nach China exportiert.

Nach der üblichen kleinen Brettljause mit Schweineohren, Flusskrebsen, gekühlten Spinat-Wasabi-Bällchen, Butterfisch, süß-scharfen Gurken, Froschsuppe, Sesambällchen, sehr viel Tsingtaobier und mehreren Runden aus der mit Schlangen gefüllten Schnapsballonflasche, die vermutlich nur aus Dekogründen und für blöde Touristen auf dem Tresen steht, sind wir gestärkt für das Shanghaier Nachtleben. Wir starten in Xintiandi, wo man ein paar alte Häuser nicht abgerissen, sondern mit Boutiquen und Latte-Macchiato-Höllen vollgestopft hat; überteuerte Cocktails nippend schaut man sich mit Horden anderer Nichtchinesen Lounge-Jazz-Livebands vor “Authentizität!” meinender Backsteinkulisse an, es sieht also innen aus wie ein RTL-Fernsehstudio, draussen wie St.Pölten. In unserem Europa hat man ja zuerst alles Alte abgerissen, um 20 Jahre später zu merken, dass das Zeugs in den Stadtkernen doch ganz heimelig ist, worauf man die noch übrigen Reste dann sanierend anpinselte und Fußgängerzonen dazwischenklemmte. Im pragmatischen China hat man keine Probleme damit, einfach beides gleichzeitig zu tun.

Nach dem zweiten Cocktail verblasst die Authentizität des Mauerwerks, und ein Taxi bringt uns in die Maoming Nanlu, wo, wie man uns versichert, noch vor zwei Jahren “der Bär gesteppt hat”, nun aber Kräne über die bereits bekannten Zukunftsverheißungsmauern lugen. Immerhin, ein einsames Lokal, das “Blue Frog” hat noch offen, im stockfinsteren Inneren spielen zwei westliche Businessmänner Anfang 40 in wechselnder Konstellation Billard mit silhouettenbetonten jungen Damen. Im nächsten Club dafür nur Expats, unter den Klängen einer Bon Jovi intonierenden Salsaband geliert Nestwärme zu Paarungsbereitschaft. Der letzte Club ist ohrenberstend laut, stoisch stehen Uniformierte hinter uns an der Wand, während wir trotz des Lärms versuchen, unser chinesisches Würfelspiel zu absolvieren, der Bedienjüngling die Gin Tonics nachgiesst und bei jedem verschütteten Tropfen unterwürfig mit dem Putztuch herbeieilt, wo man sich auf dem Weg zum Klo in Separées mit seltsamen Rauchdüften verirrt und freundlich wieder hinauskomplimentiert wird. 

Die letzte Taxifahrt am letzten Tag soll uns zum sagenumwobenen Transrapid bringen, denn dieser verheißt astronomische Fahrtgeschwindigkeit zum Flughafen. Wie immer lümmelt man sich unangeschnallt in den Taxisitzen und fragt sich beim Hinausschauen, warum alle chinesischen Stadtautobahnen mit lückenlosen Reihen von Blumenkästen versehen sind, und ob es deswegen bald zu Blumenkastenengpässen auf Tiroler Balkonen kommt, als uns klar wird, dass unsere beiden Taxifahrer ein fesches Wettrennen zum Transrapidbahnhof veranstalten und hupend, ausbremsend, alles nicht Niet- und Nagelfeste überholend, dauerspurwechselnd und kurvenkreischend die enge Spirale zur Huangpu-Brücke hochjagen. Unser Chauffeur gewinnt den Schlussspurt, was ihm auch grinsend und highfivend vom Zweitplazierten attestiert wird, und die 430 km/h in der Magnetbahn haben danach irgendwie ihren astronomischen Glanz eingebüßt.

Viel, viel später weckt mich ein Wayne-Rooney-artiger Flugbegleiter aus einem interessanten Tagtraum, in dem sich Clint Eastwood und Vivienne Westwood auf einer Waldlichtung trafen, und serviert eine British-Airways-Plastikbox mit einer Ansammlung von Gegenständen (1 Salatblatt, 1 weißer Quader, eine halbe Tomate, 2 zerschnittene Würstchen), deren Sinn ich auch nach langem Hinstarren nicht entschlüsseln kann, und ich wünsche mir dringend einen Rückwärtsgang, oder zumindest eine Flugzeugentführung in irgendeine weitere chinesische Millionenstadt, die ich noch nicht kenne.

Tags: