Die Ausstellung "Space House" in Wien zeigt das Schlüsselwerk des bis heute einflussreichen Architekten und Künstlers Friedrich Kiesler
Die Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes im Pariser Grand Palais im Jahre 1925 gilt als Markstein der Kunst- und Architekturgeschichte. Nicht nur als Namensgeber des Begriffes Art déco, nicht nur wegen Konstantin Melnikows sowjetischen Pavillons, sondern auch als der Punkt, an dem sich das Schicksal der modernen Architektur des restlichen 20.Jahrhunderts entschied.
Hier nämlich präsentierte Le Corbusier erstmals seinen berüchtigten Plan Voisin, der die großzügige Planierung von Paris zugunsten eines Rasters aus frei stehenden Megahochhäusern vorsah. Hier präsentierte aber auch ein junger Österreicher seine eigene Vision, die er Raumstadt nannte: Friedrich Kiesler. 1890 in Czernowitz geboren, hatte er sich in Wien mit seiner "Raumbühne" als Innovator der Theaterarchitektur einen Namen gemacht und wurde von Josef Hoffmann nach Paris eingeladen.
Kieslers Raumstadt war im Grunde nicht mehr als eine Art Regalsystem aus Flächen und Stäben, das frei im Raum schwebte, ohne den Boden zu berühren. Die Wände waren mit schwarzem Tuch verhängt, um so den Eindruck von Unendlichkeit zu evozieren.
Nicht um große Worte verlegen in einer Zeit der großen Worte, deklarierte Kiesler das Gebilde kurzerhand als Modell für die Stadt der Zukunft. "Wir wollen keine Mauern mehr, kein Kasernierungen des Körpers und des Geistes. Wir wollen uns von der Erde loslösen!" Kollegen wie die Künstlergruppe De Stijl waren begeistert. Schwerelos und unendlich - diese Eigenschaften sollten auch in Zukunft den Kern von Kieslers Schaffen bilden.
Völlig losgelöst von der Erde
Der Verlauf der Geschichte ist bekannt: Kieslers Vision blieb eine solche, Corbusier durfte zwar nicht ganz Paris niederwalzen, sein Prinzip wurde in der industrialisierten Moderne jedoch weltweit übernommen. Kiesler ging 1926 nach New York, auf das lukrative Auftragsangebot einer Firma hin, die sich nach seiner Ankunft als unauffindbar herausstellte. Er blieb trotzdem, fand ein Zuhause in der Kunst- und Theaterwelt und arbeitete weiter an seinen Raumvisionen. Auf einer weiteren Ausstellung präsentierte er 1933 sein Schlüsselwerk: das Space House.
Das von außen aus heutiger Sicht an die Bondbösewicht-Architektur der 1960er-Jahre erinnernde Modellhaus hatte einen nüchternen Hintergrund: Die Weltwirtschaftskrise hatte in den USA das dringende Bedürfnis nach billigem Wohnraum geweckt. Ideen für leistbare Einfamilienhäuser waren gefragt.
Kiesler, geprägt vom Wohnbau des roten Wien der frühen 1920er- Jahre, wollte das Soziale mit dem Unendlichen koppeln: in Serie produzierte Raumkapseln, die sich im Inneren wie Zellen eines Organismus an die Bewegungen ihrer Bewohner anpassen. "Ein Haus ist die Summe jeder möglichen Bewegung, die sein Bewohner in ihm ausführen kann!" Tragende Stützen waren passé, Boden, Wand und Decke sollten nach dem Prinzip Eierschale aus einer einzigen dünnen gekrümmten Material gefertigt werden. Im Inneren waren die Räume nur durch Vorhänge abgeteilt.
Utopie und Gesamtkunstwerk
"Mit diesem radikal modernen Design hat Kiesler den Bauhausgedanken in die USA exportiert", sagt Monika Pessler, Direktorin der Wiener Kiesler-Stiftung, deren Space House-Ausstellung vorige Woche eröffnet wurde. "Die Utopie und das Gesamtkunstwerk waren bei ihm stets an den Gebrauchswert gebunden."
Der Name Space House war Programm: "Der Raum dazwischen war ihm mindestens so wichtig wie das Objekt selbst." Mit dieser freien Form entfernte sich Kiesler immer mehr vom Internationalen Stil, dem Hauptweg der Architektur, die zu dieser Zeit schon in Richtung Massenproduktion abbog. Dem Motto "form follows function" setzte er sein eigenes entgegen: "Die Funktion folgt der Vision. Die Vision folgt der Realität. "
Das Space House wurde nach wenigen Monaten abgebaut und blieb unbewohnte Vision. Für Kiesler, stets mehr der reinen Idee verhaftet als ihrer Umsetzung, kein großer Rückschlag. "Er kam vom Theater - daher war ihm das Arbeiten mit Modellen, Kunsträumen und Mikrokosmen vertraut", erklärt Monika Pessler. Kiesler blieb im spannungsgeladenen Zwischenraum von Architektur, Kunst, Theater und Design. 1940, Generationen vor den computergenerierten biomorphen Blobs der heutigen Stararchitekten, schrieb er über "Architecture as biotechnique" und organisches Bauen.
Zehn Jahre später war er in der Unendlichkeit angekommen: Das Endless House perfektionierte die Rundungen des Space House zu einem embryonalen Gebilde, in dem die Räume fließend ineinander übergingen. Auch das Endless House sollte, wie die Raumstadt, vom Boden losgelöst sein - und blieb Modell.
Dennoch - oder gerade deshalb - wurden Kieslers Raummodelle schon zu Lebzeiten von Künstlern und Architekten bewundernd aufgegriffen. Mit Surrealisten wie André Breton und Marcel Duchamp war er ebenso befreundet wie mit der nächsten Künstlergeneration der Pop-Art, Buckminster Fullers geodätische Kuppeln wurden in einem Atemzug mit dem Endless House genannt, und die wilden 1960er-Jahre brachten eine ganze Flut von schwerelosen Raumstädten, die Kieslers Pariser Regalsystem von 1925 bonbonbunt adaptierten.
Auch nach Österreich drang sein Ruf, getragen von Hans Hollein und Raimund Abraham, die ihn in New York besucht hatten. "Die Raumstadt, das Endless House, das war uns allen bekannt", erinnert sich Architekt Heidulf Gerngross an die Studienzeit Mitte der 60er-Jahre in Graz. "Uns hat damals vor allem das Modulare fasziniert. Wir wollten das weiterdenken, in Serielle übersetzen, Häuser entwickeln, die man wie Autos produzieren kann."
Wie die prominenten Preisträger des seit 1998 verliehenen Kiesler-Preises zeigen, ist der schwerelose Visionär, der 1965 starb, heute noch inspirierend - ob als Selbstbedienungsladen für Ideen oder Missing Link zwischen den Disziplinen. "Ich glaube, es ist vor allem das Modellhafte seiner Arbeit, das zum Weiterdenken und Weiterbauen anregt", sagt Monika Pessler. So blieb das Space House, anders als Corbusiers Plan Voisin, bis heute unbeschädigt aktuell.
(erschienen in: Der Standard, 11./12. Februar 2012)