Schwarz auf Weiß: Eine Liebeserklärung an den Grundriss

Er ist der spröde Bruder der schicken Computer-Renderings, und das Gegenmittel zu ihrer Augenwischerei. Er ist abstrakt, aber genau darin liegt seine Schönheit. Eine Liebeserklärung an den Grundriss.

Herr N. (Name der Redaktion bekannt) freute sich besonders, als ihn neulich eine Bekannte aus Schulzeiten zum Wiedersehens-Kaffee einlud. Nicht nur, weil er sie seit über 20 Jahren nicht gesehen hatte, sondern auch aus einem besonderen Grund: Er erinnerte sich noch von früher, dass ihr kleines Haus einen der schönen Erdgeschossgrundrisse überhaupt hatte – was sich beim erneuten Besuch bestätigen sollte. Ein großer Vorraum mit Esstisch, eine rundum benutzbare Küche, ein Wohnzimmer zur Gartenfront. Fenster an den richtigen Stellen. Keine Zwickel, keine Engstellen. Türen von jedem Raum direkt in den anderen. „Wenn Kinder zu Besuch kommen, lieben sie es, im Kreis zu rennen,“ sagte die Bekannte. Zeichnet man den Grundriss auf, ist er von fast banaler Einfachheit, aber man sieht sofort: Hier stimmt alles.

Will man herausfinden, ob eine Wohnung wirklich gut funktioniert oder nicht, ist die Fotografie nur wenig hilfreich. Sie verzerrt die Proportionen, sie zeigt nur einen Ausschnitt, oder lenkt den Blick auf Details: Sofa, Vase, Gummibaum. Ein Grundriss jedoch zeigt den Grad der Wohnlichkeit auf den ersten Blick, auch wenn man gerade einem guten Grundriss nicht ansieht, wieviel Arbeit in ihm steckt. Auch ein schlechter Grundriss ist unschwer zu diagnostizieren: Falsche Proportionen, fehlende Fenster, absurde Umwege, ein Zuviel an Gängen. Auch ein Übermaß an 45-Grad-Winkeln ist in der Regel ein gutes Indiz, dass sich hier etwas nicht ausgegangen ist und hineingewurschtelt werden musste.

Die schwarzen Striche sind eine eigene Sprache, in der die Grundrisse die Geschichten von Generationen und ihren Denkweisen erzählen. Eine Sprache, die auch kulturelle Unterschiede sichtbar macht: Amerikanische Wohngrundrisse etwa lassen sich durch ihre absurde Menge an Schrankräumen und Badezimmern und ihre Besessenheit mit riesigen „Master Bedrooms“ sofort identifizieren.

Plan als Bettlektüre

Manche Grundrisse sind in ihrer schwarzweißen Klarheit wie abstrakte Kunstwerke, manche möchte man sich, wenn man der Idee des Tätowierens nahesteht, am liebsten tätowieren lassen. Der Souterraingrundriss der Wiener Oper in seiner wohlgeordneten Symmetrie. Die Grundrisse gotischer Kirchen, feinziseliert wie Brüsseler Spitze. Die Grundrisse von Burgen mit ihren dicken Mauern wie Art-Brut-Pinselstriche. Die Grundrisse von Gebäuden, die mehrfach umgebaut wurden, mal ordentlich aneinander addiert, mal chaotisch überlagert, oder beides zugleich, wie im schwindelerregend labyrinthischen Erdgeschoss der Bank of England in London. Eine Wiener Architektin, bekennender Grundriss-Fan, liest sich sogar abends vor dem Schlafengehen besonders schöne Pläne durch – zur Beruhigung. Recht hat sie.

Und doch haftet dem Grundriss etwas altmodisch Tintenhaftes an, das in der Ära verführerischer Computervisualisierungen aus der Zeit gefallen scheint. „Für jüngere Architekten scheinen Pläne so unwichtig zu sein, dass sie ihn gar nicht mehr veröffentlichen“, konstatierte der amerikanische Architekt und Theoretiker Aaron Betsky 2017. „Stattdessen zeigen sie uns fotorealistische Renderings und konzentrieren sich auf das Dreidimensionale.“

Dieses Dreidimensionale hat in Architektur und Bautechnik als selbstverständliches Werkzeug den Grundriss längst ersetzt. Ein Bauwerk von Zaha Hadid oder Frank Gehry ließe sich auch gar nicht im Grundriss entwerfen. Für Aaron Betsky ist das kein Grund zum Wehklagen: „Der Plan ist das ultimative Werkzeug der Nerds, und es ist kein Schaden, dass die heutigen Architekten seine Zweidimensionalität hinter sich gelassen haben.“

Ja – und nein. Denn gerade dieses Schattendasein macht den Grundriss zum idealen Gegenmittel zur visuellen Augenwischerei. Als der britische Guardian im Juli kritisch über den Hochhausboom in der Stadt Leeds berichtete, entzündete sich der Furor vieler Leser ausgerechnet am Grundriss eines Wohnhochhauses: Der gierige Drang, so viele Wohnungen wie möglich in ein Geschoß zu quetschen, resultierte in absurd langen, holzwurmartigen schmalen Korridoren. „This plan can fuck right off!“ fauchte ein Kommentator auf Twitter.

Architektonischer Detektiv

Auch hierzulande lohnt sich oft ein Blick in die spröden Pläne. Beispiel: Ein mit allen PR-Wassern gewaschener Ausbau eines Gründerzeithauses in Wien, keck aufgesetzter Dachgupf, verlockend visualisiert. In den Grundrissen jedoch tauchen Wohnungen auf, die aus zwei Schlafzimmern und zwei Küchen bestehen, zwei Eingänge haben und zu zwei winzigen Lichthöfen orientiert sind. Wurde hier die Tür zu einer späteren Einteilung in zwei finstere, aber lukrative AirBnB-Absteigen aufgelassen? Kein Zweifel: Im Kontrast zu den schönen Visualisierungen entlarvt der Grundriss wie ein architektonischer Detektiv effektiv und gnadenlos die wahren Intentionen hinter der Fassade.

Die Faszination schöner und weniger schöner Grundrisse sind heuten nicht nur Architekten erlegen, sie sind populärer, als man annehmen würde. Der Instagram-Account @terriblefoorplans (der Name erklärt sich selbst) hat 7.000 Follower, die Sammlung ausschließlich dreieckiger Grundrisse @triangularspaces hat 11.000 und @the_beauty_of_plan 23.000. Andere Nerds zeichnen in liebevoller Kleinarbeit die Grundrisse von Wohnungen aus Fernsehserien oder der Weltliteratur auf.

Wenn der kommende Herbst und Winter ampelorange und ampelrot leuchtet und wir, wie schon im Frühjahr, täglich mit unseren Wohngrundrissen eingesperrt sind, werden wir mehr als sonst ihre Stärken und Schwächen am eigenen Leib spüren. Und, wer weiß, vielleicht gewinnt der Grundriss dann noch mehr Fans, die vor dem Schlafengehen die beruhigende Wirkung der schwarzweißen Schönheit der Pläne zu schätzen lernen.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 19.9.2020