Runde Sache

Von Quito bis Sydney, von Wien bis New York: Seit kurzem ist der Bogen in der Architektur zurück. Plötzlich, unerwartet und weltweit

Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Laubsägearbeit: eine Holzwand mit hineingestanzten Halbkreisen. Auf den zweiten Blick: Hm, oder doch eine Hommage an die Arkaden des Südens? Eine charmante Abwechslung vom linearen Einerlei? Die Rundbögen, die sich die Wettbewerbssieger Bevk Perovic arhitekti aus Ljubljana für die Fassade des geplanten 30-geschossigen Wohnhochhauses am Wiener Nordbahnhof ausgedacht haben, fallen definitiv aus dem Rahmen des rechten Winkels. Eine kuriose Ausnahme? Keineswegs. Denn seit etwa zwei Jahren scheinen die Architekten von plötzlichem Bogenfieber erfasst. Das Wiener Büro AllesWirdGut plant gleich bei zwei Projekten in Deutschland markante Bögen: Die Perlach Plaza in München und das Ärztehaus in Würzburg bekommen im Erdgeschoss breit geschwungene Kurven.

Also ein südmitteleuropäisches Phänomen? Mitnichten. Auf zur kleinen Weltreise: Der Wolkenkratzer 180E88 an New Yorks Upper East Side wirbt mit parabelhaft hohen Bögen, die den Eingang von der Straße zum Triumph machen und den Luxus-Apartments den gewissen Swing verleihen sollen. In den Feldern von West Sussex wiederum baute sich der Architekt Adam Richards ein gedrungenes Haus aus robusten Ziegeln, die tief eingelassenen Fenster mit gemauerten Bögen gerahmt, was dem Ganzen etwas Römisch-Archaisches verleiht. Ähnliches im vietnamesischen Da Nang: Hier stapeln Tropical Space Architects für ihr "Cuckoo House" weit gespannte luftige Bögen in rostrotem Mauerwerk übereinander.

In Australien wiederum bekam die von Smart Design Studio entworfene neue Steuerungszentrale für Sydney Trains vier Fassaden, die jeweils aus einem riesigen Bogen bestehen, dessen kraftvolle Statik an Bahnbrücken erinnert. In Riga verpassen Schmidt Hammer Lassen dem neuen Kimmel-Quartier hanseatisch-solide gemauerte Arkaden. Auch Südamerika bleibt nicht bogenlos: Das Hochhaus "Common Garden" von odD+ Architects ließ sich mit seinen weißen Bögen von lokalen Klostern inspirieren.

Alles Zufall? Oder hat jemand dem anderen aufs Planpapier gelinst? Kaum, denn all diese Bauten entstanden praktisch gleichzeitig. Dem Bogen wird dabei auf unterschiedliche Art zu Leibe gerückt: Manche sind langgezogen wie Kaugummis, andere flach wie eine Pappkulisse, manche wachsen sich seitlich fast zu Gewölben aus. Mit Vorliebe werden Betonbögen als treues tektonisches Lastentier auf den Boden gestellt, darüber darf sich das Mauerwerk nach seinen eigenen Regeln austoben. Oft variieren die Bögen im Durchmesser, als hätte man beim Sperrholz-Modellbau verschiedene Rundbohrer ausprobiert. Manchmal führt diese Spannung zwischen anmutiger Archaik und zappeligem Zufallsgenerator zu etwas tatsächlich aufregend Neuem.

In anderen Fällen wirkt es wie ein One-Liner.Was nicht heißt, dass die Rückkehr des Bogens unwillkommen ist. Unser runder Freund hat schließlich seit Jahrtausenden zur Baugeschichte beigetragen. Er prägte das Kolosseum, ließ ohne Murren Triumphzüge unter sich passieren, rahmte mittelalterliche Festungsfinsternis und das Licht der Renaissance, fächerte sich in der islamischen Architektur in prachtvollen Formenreichtum auf. Das 20. Jahrhundert konnte mit ihm zunächst wenig anfangen, das Bauhaus verschmähte ihn. Ganz anders Benito Mussolini. Der monumentale Würfel des Palazzo della Civiltà Italiana wurde als Wahrzeichen der geplanten Weltausstellung EUR 1942 in den römischen Boden gerammt, perforiert durch 216 identische Bögen, gleichmäßig im Raster wie Soldaten.

Der amerikanische Architekt Louis Kahn, kongenialer Meister des Ziegelsteins, rettete den Bogen fast im Alleingang über die Nachkriegsjahrzehnte. Die Postmoderne spielte eine Weile vergnügt mit dem Bogen herum, wie sie mit allem herumspielte, bis dessen architekturhistorische Präsenz im grellen Licht von 80er-Jahre-Shoppingcentern in Kunststoff und Klebefolie als Parodie seiner selbst versackte. Danach war er praktisch verschwunden, während Computerprogramme biologistische Blobs oder zipferlreiche Großgesten generierten.

Auch die preußisch-verklemmte steinerne Architektur im Berlin des 21. Jahrhunderts blieb eisern rechtwinklig, als wäre ihr der Bogen zu südlich, zu mediterran, zu flatterhaft.Warum also ausgerechnet jetzt dieses Comeback? Fragt man Architekturexperten, die an renommierten Hochschulen zugange sind, wissen sie sofort, worum es geht, sind jedoch ratlos, was das Warum angeht. Der forensische Versuch einer Chronologie deutet auf einen möglichen Patient Zero des Bogenfiebers: Arches Boulogne, 2016 von Antonini Darmon Architectes in einem Pariser Vorort erbaut, ganz in Weiß, ein absichtliches Viel-zu-viel an Bögen rund um einen simplen Kubus. Offizielle Begründung: Man habe sich vom Bestand der alten Renault-Fabriken inspirieren lassen, die eben auch von Bögen gekennzeichnet waren.

Nun sind Architekten stets talentiert darin, im Nachhinein blumige Begründungen für ihre Ideen zu erfinden, die den Zufall oder das Modische in den Rang einer ewigen Wahrheit hinaufinterpretieren. Denn nicht alle Ideen lassen sich rational erklären. Das Neue schleicht sich oft über ungewohnte Wege in die Welt, und manchmal auf uralten Pfaden. Wo immer die Bögen herkommen: Sie werden die Architektur der frühen 2020er-Jahre für spätere Historiker leicht identifizierbar machen.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 27.7.2019