Retail-Stapel statt Ratzenstadel

In Wien Mitte eröffnete vorige Woche nach jahrelangem Hickhack endlich "Wien Mitte The Mall". Also, ein bisschen jedenfalls.

Der Straßenzug Invalidenstraße und Hintere Zollamtsstraße ist nicht gerade einer der schönsten in Wien. Man könnte sogar sagen, er ist eine fast nahtlose Aneinanderreihung von Hässlichkeit, ein plumpes Bollwerk der Geschmacksverirrung zwischen erstem und drittem Bezirk. Vom formlosen Raiffeisen/W3-Komplex über die ungelenk verdrehte Klebeplättchen-Architektur des Justiztowers bis zum düster verspiegelten Gebirge des Rechnungshofs am Donaukanal.

Der Bahnhof Wien Mitte reihte sich bis vor wenigen Jahren hier nahtlos mit ein. Oftzitierterweise von Bürgermeister Häupl einst als "Ratzenstadel" tituliert, bestand er aus unauffällig modernen, aber heruntergekommenen Sechziger-Jahre-Bürogeschossen, darunter ein höhlenartiges Gewirr von Wegen, der Abgang zur U4 als unwürdiges Schlupfloch, der deprimierendste SPAR-Markt von Wien, und im bollwerkartigsten aller Bauwerke, der fensterlosen Markthalle, ein enger Ameisenbau aus Marktständen, orange gefliest und trüb beleuchtet, als wäre es für immer circa Winter 1978.

Dabei sind Flächen über Bahnhöfen in den Metropolen von heute Gustostückerl-Immobilien mit bisher ungenutzen Flächen in Zentrumslage. Kein Wunder also, dass sich über Wien Mitte die Köpfe heiß geplant wurde. Ende der 80er Jahre sollten es neun Türme sein, 1992 deren fünf, mal 120, mal 95 Meter hoch. Planer des damaligen "Hochhausprojekt Wien Mitte": Neumann & Partner mit Ortner & Ortner. 2001 wurde die Wiener Innenstadt UNESCO-Weltkulturerbe, und bei der Vorstellung eines Mini-Manhattans im Canaletto-Blick vom Belvedere schrillten die Alarmglocken: Also Kommando zurück. Immerhin: Der Justiz-Tower schaffte es ins Stadtpanorama.

2003 wurde ein neuer städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, den das renommierte Büro Henke Schreieck gewann. Ihre Lösung: ein 30 Meter hoher kantiger U-förmiger Rahmen mit offenem Sockelgeschoss, und ein einziges 60-Meter-Hochhaus neben dem Justiztower. Kritiker monierten, die 31.000 Quadratmeter Verkaufsfläche - im Immobiliensprech: Retail - gefährdeten die Einkaufsstraßen der Umgebung. Der damalige Planungsstadtrat Schicker beschwichtigte, netto seien es eh nur 23.000.

Im Oktober 2007 erfolgte, nach fast 20-jährigem Hin und Her, der Spatenstich. Errichter ist die Wien Mitte Immobilien GmbH, die jeweils zur Hälfte im Eigentum der BAI Bauträger Austria Immobilien und Bank Austria steht. Diese werden auch die privatwirtschaftlichen Vermieter der Finanzämter sein, die ihre von der staatseigenen Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) verwalteten Standorte verlassen, um in den Büroflächen von Wien Mitte zusammengelegt zu werden, ähnlich wie es bei den Justizbehörden im Justizzentrum der Immofinanz nebenan der Fall war.

Nach fünf Jahren Bauzeit hat das Wien Mitte nun vorige Woche aufgesperrt - zumindest teilweise. Die Ankermieter Mediamarkt und Interspar sind schon offen, die übrigen der insgesamt 50 Shops (Nettofläche: 30.000 Quadratmeter) werden im April 2013 einziehen. Der mondäne, gänzlich interpunktionsfreie Name steht jetzt schon über dem Eingang: "Wien Mitte The Mall". Der U-förmige Rahmen ist in der Zwischenzeit auf 35 Meter Höhe, der Turm auf 70 Meter angeschwollen, die Baukosten betrugen insgesamt 480 Millionen Euro. Die Architekten Henke und Schreieck hatten sich schon 2004 von der flächen- und höhenmäßigen Auffettung ihres städtebaulichen Konzepts distanziert. Zu Ende geplant wurde es von den "Architekten Wien Mitte", das heißt, den altbekannten Neumann & Steiner und Ortner & Ortner, bei denen die Rechte am "Hochhausprojekt Wien Mitte"-Entwurf lagen.

Sieht man von den noch verschlossenen Ladenlokalen ab, lässt sich jetzt schon ein Fazit ziehen. Wie ist Wien Mitte, wie ist The Mall geworden? Es ist unerwartet gut geworden, und das ist vor allem dem Konzept von Henke Schreieck Architekten zuzuschreiben. Die Mall im Inneren ist, wenn man den vorangegangenen Zwang zur Maximierung der vermietbaren Flächen bedenkt, erstaunlich luftig. Das umlaufende hohe Erdgeschoss: Souverän großstädtisch und leicht verständlich für die von allen Seiten zuströmenden Passanten. Wo vorher finstere enge Schlupflöcher waren, sind nun breite Durchgänge, wo Sackgassen waren, findet man nun Wege zwischen Marxergasse, Gigergasse, Landstrasse und Invalidenstraße.

Auch der Justiztower hat sein Gegenüber bekommen, und Wien dadurch 50 Straßenmeter New Yorker Hochhausschluchterl an der Marxergasse. Ansonsten sind die in Blockmitte aufgetürmten Büromassen von der Straße kaum zu sehen, sie stapeln sich wie auf einer Tischplatte in der Mitte der 1,5 Meter dicken Betonplatte über dem Erdgeschoss,, die die Lasten von oben verteilt und zwischen die derunterliegenden Gleise quetscht. Der Betonriegel der alten Markthalle an der Invalidenstraße wird zur Zeit noch umgebaut und soll 2013 im gleichen gläsernen Kleid erstrahlen wie die jetzt eröffneten Bauteile. Mit deren 49 Standlern wurden, nach vehementen Protesten, Abfindungen und Alternativstandorte ausgehandelt.

Im Inneren hat "The Mall" mit dezenter Helligkeit die schattigen Geister der alten Markthalle längst vertrieben. Ohne Palmen und Dekogerümpel, ein übersichtlicher Ort geschäftigen Gewurls, wie es einem solchen Kreuzungspunkt der Verkehrsströme angemessen ist. Zweifellos ein besserer Ort für eine Mall (oder heißt es eine The Mall?)  als die grüne Wiese am Stadtrand. Nur der Abgang zur U4, der ist immer noch ein unwürdiges Schlupfloch.

(erschienen in: FALTER 46/2012, 14.11.2012)