"Nostalgie interessiert mich nicht" - Interview mit Anupama Kundoo

Die indische Architektin Anupama Kundoo entwickelt ressourcenschonende Materialien für den Selbstbau. Im Interview erklärt sie, wie man aus lokalen Traditionen Neues schafft

Sie pendelt zwischen Indien und Spanien, sie sorgte auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 mit ihrem Selbstbauhaus aus bunten Faserbetonplatten für Aufsehen. Ihre Studienzeit verbrachte sie – "my bohemian lifestyle" – in einer selbstgebauten Lehmhütte, aber sieht sich nicht als Vertreterin einer Dritte-Welt-Romantik und ist erleichtert, dass man sie im Interview nicht auf das Etikett "weibliche Architektur" anspricht. Anupama Kundoo war vor kurzem beim Symposium "Selbstbau meets Wiener Wohnbau" (eine Kooperation des Architekturzentrums Wien AzW und der IBA 2022 Neues Soziales Wohnen) zu Gast. Mit dem STANDARD sprach sie über die Wohnungskrise und die Dualität von Tradition und Innovation.

Sie sprechen in Wien bei einem Symposium zum Thema Wohnbau. Wo sehen Sie die globalen Herausforderungen, wenn es ums Wohnen geht?

Kundoo: Wir befinden uns zurzeit in einer extremen Krise auf allen Ebenen: Die Umwelt ist in Schieflage, der soziale Zusammenhalt ist bedroht, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die Wohnungsfrage war bis vor kurzem keines dieser Probleme. Fragt man ein Kind, was "Wohnen" ist, sagt es: ein Zuhause. Fragt man heute einen Erwachsene, sagt er: eine Investition. Früher wohnte man eben und verdiente sein Geld für die anderen Lebenshaltungskosten. Heute nehmen Investoren und Bewohner riesige Bankkredite auf, und die Banken, die davon profitieren, tun so, als ob sie ihnen damit einen Gefallen tun. Noch dazu sind die Standards im Wohnungsbau so hoch geworden, dass günstige traditionelle Baumethoden gar nicht mehr zulässig sind. Das betrifft längst nicht mehr nur die Armenviertel. Wenn sich selbst die, die einen guten Job haben, das Leben in Städten nicht mehr leisten können, dann läuft etwas grundsätzlich falsch.

Die Handlungsmacht von Architekten ist begrenzt. Wie können sie die Gesellschaft beeinflussen?

Wenn man realisiert, dass das System, das wir haben, nicht ausreicht, kommt man automatisch auf Ideen. Wir sind ja nicht nur Architekten, sondern auch Teil der Gesellschaft. Selbst wenn uns die tägliche Arbeit in eine Nische zwingt, müssen wir eine große Vision für die Verbesserung der Welt haben. Ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer lebte ich in Berlin. Dort entstand gerade ein Selbsthilfeprojekt, bei dem der Staat einen Teil finanzierte, unter der Bedingung, dass die Bewohner den Rest aufbrachten. Als Architekten mussten wir also eine Lösung finden, und das haben wir auch geschafft.

Sie haben sich immer wieder mit traditionellen Baumethoden beschäftigt. Was können wir von diesen lernen?

Das Handwerkliche ist mir wichtig, und manchmal sehen meine Bauten daher rau aus. Aber ich arbeite nicht traditionell, und Nostalgie interessiert mich nicht. Es geht mir nicht darum, altes Handwerk wiederzubeleben. Wir haben mit Töpfern in Indien gearbeitet, aber dabei ging es uns nicht um die alten Töpfe. Die können gerne ins Museum! Es ging darum, dass das über Jahrhunderte gewachsene Wissen der Töpfer nicht verlorengeht. Ich will, dass sie auf der Basis dieses Wissens etwas Neues erfinden. Ihre Fähigkeiten kann man benutzen, um Lösungen zur Wohnungsfrage zu entwickeln, während sie gleichzeitig ihren Lebensunterhalt sichern. Noch dazu ist dieses Wissen ortsgebunden. Das heißt, der Gewinn kommt der lokalen Wirtschaft zugute, und die Baumaterialien müssen nicht um den Globus transportiert werden.

Das heißt, die Architektur selbst wird auch ortsspezifischer?

Viele Gebäude vermitteln heute kaum noch ein Gefühl für den Ort, an dem sie stehen. Ob in Singapur oder Dubai, man sieht immer dieselben Glastürme. Je mehr sich die Städte global entwickeln, desto mehr Glastürme gibt es, weil diese Städte sich nicht auf ihre Tradition besinnen. Aber wie toll wäre es, wenn man an einem Ort die Verbindung zwischen der Kultur und ihren Baumaterialien erkennt! Die Fähigkeiten der Leute haben sich aus dem entwickelt, was in der Region vorhanden war, und daraus können wir eine Architektur erzeugen, die an ihrem Ort verwurzelt ist.

In der Architektur wird immer öfter über Social Design geredet. Fühlen Sie sich in dieser Kategorie zu Hause?

Architektur ist nicht Sozialarbeit. Wenn mein Ziel Sozialarbeit ist, gebe ich den Bedürftigen einfach direkt das Geld. Ich sehe mich eher in der klassischen Rolle der Architektin, und dazu gehören Technologie und der richtige Umgang mit Ressourcen. In Indien wohnt ein Sechstel der Weltbevölkerung, aber wir verfügen nur über 2,4 Prozent der Landmasse. Das heißt, der Boden ist unser kostbarstes Gut. Wenn europäische Architekten den Energiebedarf ihrer Häuser um 25 Prozent senken, nennt man das ökologisch. Aber wenn wir diesen Verbrauch auf Schwellenländer übertragen, bräuchten wir sechs oder sieben Planeten. Das heißt, was wir heute ökologisch nennen, ist nicht ökologisch genug. Wir müssen viel sparsamer mit Ressourcen umgehen, und dazu brauchen wir eine Balance zwischen Hightech und Lowtech.

Zum Beispiel Ihre Full Fill Homes aus leichten Faserbetonplatten?

Ich will damit denen, die in unsicheren Verhältnissen leben, ein solides Haus aus Faserzement bieten, das sie sich innerhalb von drei Wochen selbst bauen können, mit weniger Ressourcenverbrauch als ein Haus aus Ziegeln oder Beton. Lehmhütten mit Palmendächern schauen vielleicht romantisch aus, aber sie brennen und schimmeln leicht. Ich weiß das, ich habe zehn Jahre in einer gewohnt! Solche Hütten können wir für die Reichen in ihren Boutiquehotels bauen, die im Urlaub einen Kontakt zur Natur wollen. Es ist nämlich ganz schön teuer, alle drei Jahre ein Dach aus Kokospalmen auszutauschen!

Viele Selbstbauprojekte tendieren trotz guter Intentionen dazu, die Armut zu verklären.

Allerdings! Ich komme aus einem Land mit kolonialer Vergangenheit, und ich habe zu viele Projekte gesehen, die aus westlicher Philantropie entstanden sind und aus Sicht des Geldgebers schön fotogen aussehen. Das finde ich nicht so cool. Als ich in Berlin meine Faserzementprojekte ausstellte, wurde ich gefragt, warum ich für die Armen in Indien nicht mit Lehm baue. Ich habe geantwortet: Weil Indien nicht Ihrem Schlangenbeschwörerklischee entspricht! Wenn man in Deutschland wohnt, fragt man sich ja auch nicht, warum man in einem Haus aus Beton wohnt. Dabei gibt es in Deutschland auch eine Lehmbautradition!

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 17./18.12.2017