Nanjing

Gymnastikgreise in Gärten

“Rrrrcchhhh-F’T!”

Vor dem Herumspucken hatte man mich gewarnt, aber Grund zum Augen- und Ohrenzuhalten gibt es nur bedingt, vielleicht hält man sich olympiabedingt zurück. Erstaunt bin ich aber, dass auf innerchinesischen Flügen freudig und frequent in innerchinesische Flugzeuge hineingerotzt wird.

Nun gut, vielleicht lautete der unentzifferbare Slogan der innerchinesischen Fluglinie dann doch “We put the Speib back in ‘Speibsackerl’” und nicht, wie vermutet “Auch unsere Flughäfen und Flugzeuge sind, wie Bahnhöfe und Bahnen, brandneu und blitzblank, sie werden ja auch alle drei Jahre weggeworfen und durch noch neuere und blitzblankere ersetzt. Und wie findet ihr unsere wie frischgemacht schmeckenden, interessant gefüllten Teigtaschen in apart designten Pappschachteln? Gut, oder? Xiexie for flying with Name vergessen Airlines.”

 “Our brand new aircraft is now approaching the brand new Nanjing Airport.”

“Rrrrcchhhh-F’T!”

Nanjing erweist sich als absoluter Glücksgriff. Wenn man in Shenyang denkt “Gut, jetzt muss ich also nicht mehr nach Nowosibirsk fahren, das wird wohl in etwa genau so aussehen. Wieder Lebenszeit gespart!”, sagt man in Nanjing zu sich selbst “Ich sollte mal wieder nach Südfrankreich fahren, das ist genau so wie hier. Wieder Lebenszeit sinnvoll verschludert!”

Die breiten Strassen werden von riesigen Platanen gesäumt, ausser dort, wo wie in jeder chinesischen Stadt gerade 5 neue U-Bahn-Linien gebaut werden und wunderschöne blaue Blech-Bauzäune den Weg blockieren, wirklich, China hat die zweitschönsten Bauzäune der Welt. Die schönsten gibt es in Istanbul. An jeder, wirklich jeder Ampel hängen riesige LCD-Displays, die den Ampelcountdown in rot gelb und grün anzeigen, so spart sich der Taxifahrer das nervöse Kettenrauchen. Es ist eben nicht so, dass der Chinese uns alles billig nachmacht, sehr vieles macht er als erster viel besser. Das möchte man nur zu gern allen deutschen und österreichischen Businesshorden unter die Nase reiben, die hochnäsig mäkelnd in chinesischen Hotelfoyers herumstehen: “Etwas mehr Respekt gegenüber einer Nation, die Schach, Papier, und LCD-Countdowns an Ampeln erfunden hat, ist durchaus angebracht, vor allem von Nationen, die uns Xavier Naidoo und Salzburg eingebrockt haben. Und ausserdem sind sie besser ernährt und besser angezogen als ihr!”

Wo wir von Ernährung sprechen. Es ist erstaunlich, wie jegliches Essen, selbst wenn es aus winzigen Garküchen in einem verlottert aussehenden Viertel zwischen zwei Heizkraftwerken am Jangtse stammt, nur aus den frischesten Zutaten bereitet wird. Man isst seine Nudelsuppe am besten auf Plastikhockern sitzend zwischen sechsspurigen Strassen und dem Garküchenkoch, der Teigfladen mit einer fingerfertigen Rasanz, die jedem Hütchenspieler den Neid in den Schnurrbart treiben würde, in Fadennudeln verwandelt. Wenn man als Grossgruppe auftritt, wird man, wir kennen das schon aus den Restaurants, in einen separaten Raum geführt, in dem nur ein Tisch steht. Garküchen bestehen zwar nur aus einer fensterlosen Garage, doch auch eine fensterlose Garage kann ein Separée haben, in diesem Fall einen fensterlosen, unbeheizten, gekachelten Abstellraum voller Pappkartons und kaputter Spielautomaten. Alles Frösteln ist vergessen, sobald die Nudelsuppen, Teigtaschen, Schnecken mit Spinat und halblebenden Garnelen (sie werden in Salatdressing eingelegt, man wartet, bis sie aufhören zu zucken und knackt sie dann, genauso wie ihre normalen, humaner um die Ecke gebrachte Verwandten) von kichernden Nanjingerinnen hereingetragen werden, und nach einem Löffel von der Leib und Seele durchkärchernden scharfen Fischsuppe möchte man nie wieder etwas nicht Chinesisches essen.

Das Kraftwerksviertel ist auf den zweiten Blick gar nicht so verlottert, ärmlich zwar aber nicht arm, alle Bewohner sind schlicht, aber gut angezogen, die Alten spielen Mahjongg und Schach auf der Gasse, und weil heute der erste sonnige Tag seit langem ist, wird die Wäsche herausgehängt; Bettwäsche hängt man zum Trocknen einfach über die Leitplanken der Stadtautobahn. Nicht viel anders als in Neapel oder Marseille also, nur ohne Vespafahrer und Straßenkriminalität. Wieder ertappt man sich bei dem Gedanken, dass autoritäre Regimes vielleicht in manchen Fällen gar nicht so übel sind, sie sind eben so friedlich, wohlgeordnet und ästhetisch an der Oberfläche. Die verführerischsten Oberflächen sind hier die Parks. Zum Beispiel dieser hier, am Fuße der längsten Stadtmauer der Welt (allein die darin aufbewahrte Nanjinger Altstadt ist eine Millionenstadt für sich). Chinesische Parks sind Pensionistenclubs mit Gartengestaltung, und die schönsten finden sich in Nanjing. Großmütter korrigieren sich gegenseitig bei Schwertkampfübungen, daneben Tai Chi im Formationstanz und minimalistische Dehnübungen, die alten Herren spielen Karten oder hängen ihre Vogelkäfige bei Sonnenschein in die Bäume, um dann stundenlang kritisch herumdeutend gegenseitige Vogelzwitschervergleiche anzustellen, in einem Pavillon am Teich wird musiziert, einfach so, und überall gibt es Rentnerspielplätze mit Freiluft-Sportgeräten, an denen die ausnahmslos drahtigen Alten herumbaumeln. Offensichtlich ist es hier ganz normal, auch als Greis wach, neugierig, in Bewegung und vor allem nicht allein zu bleiben, und das beruhigt mich in diesem Moment ungemein.

All diese Bewegung macht schon wieder hungrig, also schnell durch die Platanenalleen zum nächstbesten Hotpot-Restaurant. Der Hotpot ist eine Art Fleischfondue mit einem tiefen, in die Tischplatte eingelassenen Topf. In unserem Fall wird die brodelnde Hühnersuppe jedoch mit einem frischen Huhn hergestellt, so frisch, dass man sich beim Bestellen eines aus dem Käfig neben der Tür aussucht, das kreischende Wunschhuhn wird dann in einen alten Tsingtaobierkarton gestopft und abgewogen; keine Viertelstunde später fischt man schon Krallen und Kamm aus der Suppe.

Am nächsten Morgen lässt man sich zum gerade fertiggestellten, wunderschönen, elegant geschwungenen gläsernen Bahnhof fahren, der, wie man der “China Daily” entnommen hat, bald wieder abgerissen wird, weil eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Shanghai gebaut wird, mit Taktzeiten von 3 Minuten. Fürs erste müssen wir also mit der Mittelgeschwindigkeitsstrecke nach Shanghai vorlieb nehmen. Aber solange sich auch hier die Sitze um 180 Grad drehen lassen, soll uns das recht sein.

Tags: