Move over, Motorstadt!

Städte nutzen die Corona-Krise, um den öffentlichen Raum neu zu ordnen. Auch im gallischen Dorf der Fahrspurfetischisten, der Autometropole Stuttgart?

Es grenzt an ein Wunder, dass dieser Platz noch nie zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Deutschland und Österreich geführt hat. Eine mehrgeschoßige Betonkrake aus Rampen, Abbiegespuren, Parkplätzen und einem Kreisverkehr, laut, dreckig und für Fußgänger unüberquerbar. Der Österreichische Platz in Stuttgart, 1961 im Zuge der "autogerechten Stadt" errichtet, ist zweifellos der hässlichste der Stadt. Das will etwas heißen, denn hier sieht fast jeder größere Platz so aus. Während Düsseldorf und Hannover ihre Hochstraßen der Nachkriegszeit längst abgebrochen haben, regiert in der Heimat von Daimler und Porsche bis heute das Auto.

Während sich Protestierende weinend an Bäume ketteten, die für das Bahnprojekt Stuttgart 21 weichen mussten, wurde am Stadtrand ohne großen Widerstand hektarweise Grünland für Ortsumfahrungen und für Umfahrungen von Ortsumfahrungen (ja, das gibt es) geopfert. Selbst Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, betonte im Dezember, die Autoindustrie sei der "Pfeiler des Wohlstands" und man müsse alles tun, "damit wir Autoland bleiben."

Zwar kündigte Stuttgarts ebenfalls grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn 2019 vorsichtig an, den Autoverkehr um 20 Prozent zu reduzieren, doch immer noch wirkt die Stadt auf den Besucher wie ein gallisches Dorf des Brummbrumm. Sehr viele, sehr neue, sehr riesige Autos auf sehr vielen Fahrspuren, als sei die Stadt in erster Linie eine Teststrecke für die in ihr hergestellten Fahrzeuge. Während andere Städte weltweit den Raum fürs Automobil seit langem radikal beschneiden, wird hier laut aufgeschrien, wenn jemand zaghaft vorschlägt, eine Fahrspur zu opfern. Der Verkehrsfluss! Die Schlüsselindustrie! Der Standort!

Doch langsam werden im Lärm auch andere Stimmen hörbar. Da ist zum einen die 2017 gegründete Initiative "Aufbruch Stuttgart", die sich aus dem kulturaffinen Bürgertum rekrutiert und mit Werner Sobek und Arno Lederer zwei namhafte Architekten zu ihren Mitgliedern zählt. Sie widmet sich vor allem der "Kulturmeile" zwischen Schloss, Staatsgalerie, Landesbibliothek und Oper, die von einer achtspurigen Stadtautobahn durchschnitten wird. Wiener Leser können sich das in etwa so vorstellen, als müsse man zwischen Staatsoper, Parlament und Museumsquartier die Südosttangente überqueren.

Jünger, frecher und auffälliger ist der Verein Stadtlücken, der sich 2016 im finsteren Niemandsland unter der mächtigsten Betonbrücke des Österreichischen Platzes breitmachte, diesen dauerhaft mit Freiluftkino, Diskussionen und Partys bespielte und offensiv Fragen stellte. Zum Beispiel: "Wo ist eigentlich dieser Österreichische Platz?" Kern der Gruppe sind vor allem Absolventen aus Kreativberufen. "Wir haben uns gefragt, warum unsere Städte eigentlich so aussehen, wie sie aussehen", so die Stadtlücken-Initiatoren auf Anfrage des STANDARD. "Wer trifft Entscheidungen? Wer gestaltet unsere alltägliche Umgebung und mit welchem Interesse? Und wem gehört das alles eigentlich?"

Die fröhliche Annexion des Unortes war erfolgreich: "Gemeinsam mit Stadtverwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft wurden bis Ende 2019 verschiedene Nutzungskonzepte ausprobiert, um herauszufinden, wie der Ort nachhaltig funktionieren kann. Mit dem Beschluss des Gemeinderats zum Doppelhaushalt 2020/2021 wurden 1,4 Millionen Euro für die Weiterentwicklung des Ortes hin zum Kooperativen Stadtraum bewilligt. Yeah!"

Gute Nachrichten für den Österreichischen Platz. Doch reicht das für eine ganze Stadt? Andere Metropolen übertreffen sich schließlich zurzeit, bedingt durch den Faststillstand durch die Corona-Krise, im Tagesrhythmus mit Plänen für die Neuordnung des öffentlichen Raumes während und nach der Pandemie.

Brüssel führte ein Tempolimit von 20 km/h in der gesamten Innenstadt ein. Mailand präsentierte vorige Woche den Plan "Strada Aperte", der Fahrradstraßen und Tempolimits vorsieht und schon diesen Sommer 35 Kilometer Straßen umgestalten will. "Bisher haben wir für 2030 geplant. Jetzt planen wir für 2020, für die Gegenwart", so der stellvertretende Bürgermeister Pierfrancesco Maran. Auch Paris, unter Anne Hidalgo eine der offensivsten Städte bei der Befreiung des Stadtraums vom Auto, beschleunigt seinen Plan für die Einrichtung mehrerer Radschnellwege mitten durch die Stadt.

Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wiederum schuf seit dem 25. März stattliche 8,2 Kilometer temporäre Radwege, um Verkehrsteilnehmern, wie man Menschen im Straßenraum immer noch nennt, die nötige physische Distanz zu ermöglichen. Weitere Radwege sollen folgen, alle waren schon länger in der Planung und werden jetzt umgesetzt.

New Yorks Bürgermeister kündigte am Montag sogar an, 100 Straßenmeilen zu "Open Streets" zu deklarieren, in denen sich Fußgänger frei bewegen können. 40 davon sollten unverzüglich eingerichtet werden.

Die litauische Hauptstadt Vilnius denkt über den Verkehr hinaus: Sie will die Innenstadt in einen riesigen Schanigarten verwandeln, um die gefährdete Gastronomie zu retten. 18 Plätze wurden bereits für Restaurants und Cafés geöffnet, weiter sollen folgen.

Wien wirkt dagegen mit seinen vorerst bis Mai befristeten temporären Begegnungszonen vergleichsweise zaghaft, und Initiativen wie "Platz für Wien" fordern deutlich radikalere Maßnahmen. Zu Recht. Denn nicht nur beim öffentlichen Raum zeigt die Corona-Krise, dass manches sehr schnell gehen kann, wenn man nur will. Wer einmal in Fahrbahnmitte eine Straße entlangspaziert ist, möchte diese Freiheit nicht so schnell wieder aufgeben.

Die Frage ist: Bleiben die jetzigen Maßnahmen bestehen, oder werden sie postpandemisch wieder zurückgefahren? "Dass alles wieder so werden kann, wie es zuvor war, möchten wir bezweifeln", sind die Optimisten von den Stuttgarter Stadtlücken überzeugt. "So schlimm die Corona-Krise für uns alle ist: Je länger sie dauert, desto mehr Zeit haben wir, vom Beschweren und von der Angst ins aktive Ändern und Handeln zu kommen. Provisorische Übergangslösungen eröffnen die Möglichkeit, überprüft zu werden und sich als sinnvoll beweisen zu können. Denn vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, gewisse Routinen, Systeme und Prozesse infrage zu stellen. Wie wollen wir uns in Zukunft fortbewegen, und wie können wir dies räumlich gestalten?"

Wer weiß, vielleicht dürfen österreichische Besucher eines Tages mitten auf dem Österreichischen Platz in Ruhe einen Kaffee trinken.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 3.5..2020