Monster funken SOS

Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt startet eine Kampagne zur Rettung des vielgeschmähten Brutalismus der 70er Jahre. Denn dieser erfährt gerade neue Wertschätzung. So auch das akut vom Abriss bedrohte Kulturzentrum in Mattersburg.

40 Jahre: Das Alter, in dem Humanoide gerade ihren ersten Lamborghini kaufen, berufsjugendlich aufs Longboard klettern, den Agenturjob hinwerfen und sich Jungwinzer-Visitenkarten drucken lassen, ist für Gebäude des gefährlichste überhaupt. Wenn sich die ersten Zipperlein zeigen, stehen Bauwerke am Scheideweg zwischen Abriss, Neuentdeckung und Denkmalwürdigkeit. Besonders gefährdet sind diejenigen, die ihr kritisches Alter zum Höhepunkt der Vollwärmeschutz-Euphorie erleben (nämlich genau jetzt) und entweder im bauphysikalischen Rausch komplett abgerissen werden oder unter einem Einheits-Plastikpullover verschwinden.

Genau dieses Schicksal erleiden zur Zeit die hassgeliebten Bauten aus der Zeit des Brutalismus: Die wuchtigen, aus Sichtbeton zu skulpturalen Gebirgen geformten Kirchen, Schulen, Krankenhäuser und Universitätsbauten, die in den 60er und 70er Jahren vor allem in der Schweiz, den USA und Großbritannien entstanden. Oft als "Betonmonster" geschmäht, waren sie nicht selten progressive baukünstlerische Statements, bautechnisch solide ausgeführt, und funktionell durchdacht. Andere waren als Teil des technokratischen "Bauwirtschaftsfunktionalismus" vor der Ölkrise 1973 tatsächlich vor allem auf maximale Masse aus.

Trotzdem werden auch die besten unter ihnen nicht von der Abrissbirne verschont. Gleichzeitig wächst das Interesse an dieser rauen, charakterstarken Architektur. Handeln ist also geboten, solange die "Monster" noch zu retten sind.

Aus diesem Grunde startete das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Frankfurt Anfang November gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung und dem Online-Architekturmagazin uncube die Kampagne SOS Brutalism. Auf der gleichnamigen Website werden herausragende Bauten aus aller Welt gesammelt, wie Tierarten katalogisiert als gerettet, gefährdet, oder ausgestorben.

Warum genau jetzt diese Rettungsaktion? "Neben dem kritischen Alter gibt auch andere Gründe", sagt Oliver Elser, Kurator  am DAM. "Etwa einen Generationswechsel in der Denkmalpflege: Die leidenschaftlichen Gegner vieler Betonmonster erleben heute, dass ihre Nachfolger die Dinge mit unverstelltem Blick sehen. Und schließlich leben wir in populistischen Retrozeiten: Wenn allerorts Schlösser wiederaufgebaut werden, sehnt man sich doch nach Bauten mit einer gewissen Härte, die für eine andere gesellschaftliche Vision standen!"

Eine große Ausstellung zum Thema ist für Anfang 2017 am DAM geplant. Bis dahin können von Fachleuten und Laien unbekannte Schätze gehoben und veröffentlicht werden. So sind unter anderem raue Prachtstücke aus Argentinien und Costa Rica, Futuristisches aus Israel, Monströses aus Moskau und Riesenmaschinen aus Japan zu entdecken.

Doch auch direkt unter der eigenen Nase schlummern bauhistorische Schätze. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das Burgenland ein Reservat des Brutalismus ist? Einer der jüngsten Einträge bei SOS Brutalism ist das 1976 eröffnete Kulturzentrum (KUZ) in Mattersburg. Der vom Architekt Herwig Graf entworfenen Bau ist mit rot wie "gefährdet" gekennzeichnet.

Er ist in jeder Hinsicht ein Paradebeispiel für diese Ära. Als Teil eines sozialdemokratisch volksbildenden Programms des damaligen Unterrichtsministers Fred Sinowatz und des Kulturlandesrats Gerald Mader war es das erste von fünf Kulturzentren im damals noch vorm Eisernen Vorhangs dahindämmernden Burgenland und somit wie viele seiner internationalen Geschwister Resultat einer aufgeklärten Beamtenschaft. "Kultur für alle" hieß das Motto. Vom Literaturhaus über die Volkshochschule bis zu Jugendclub und Ballsaison fand alles unter einem Dach statt. Sinowatz sprach damals von einem "Modell für ganz Österreich".

Die architektonischen Definitionen des Brutalismus erfüllt es spielend: Der Sichtbeton formt meterhohe, doppelwulstige Dachkränze, verspielte runde Ausbuchtungen und prachtvoll überdimensionierte Wasserspeier; ein Entlüftungskamin wird zum gedrungenen Campanile.

Junge burgenländische Architekten wie Graf und vor allem Matthias Szauer durften damals in Folge den internationalen Stil in die pannonischen Kleinstädte importieren. Einige dieser Bauten wurden in den letzten Jahren abgerissen oder verschwanden unter Styropor.

Pünktlich zum kritischen 40.Geburtstag wurde auch dem KUZ die Rute ins Fenster gestellt: Eine Sanierung käme teurer als ein Neubau, befand das Land im Mai 2014 und verwies auf die schlechte Energiebilanz. Doch dann regte sich überraschender Widerstand. Eine Plattform "Rettet das Kulturzentrum Mattersburg" wurde gegründet, über 2000 Unterschriften gesammelt - bei einer Stadt mit 7000 Einwohnern eine beachtliche Zahl. Ein Zeichen, dass der vielgeschmähten "Betonmonster" doch gar nicht so unbeliebt sind?

Also lenkte das Land ein bisschen ein, in einem Positionspapier wurde 2015 festgelegt, dass "wesentliche Merkmale" des Baus erhalten bleiben sollten. Zur Zeit läuft ein zweistufiger (von der Architektenkammer nicht anerkannter) Wettbewerb. Was die "wesentlichen Merkmale" sind, bleibt den beteiligten Architekten überlassen.

Wenig verwunderlich, dass der Architekt selbst dies kritisch sieht: "Das Gebäude muss erhalten bleiben, weil es ein Zeitzeuge der burgenländischen Kulturoffensive ist!" sagt der heute 75jährige Herwig Graf zum STANDARD. Bautechnische Einwände will er nicht gelten lassen. "Das Gebäude hat 40 Jahre bestens funktioniert und wurde mehrmals auf Stand gebracht. Der Beton ist hervorragend ausgeführt. Außerdem bringt es bauphysikalisch nichts, einen Veranstaltungsaal, der einmal pro Woche genutzt wird, in Styropor einzupacken. Man kann ein Gebäude doch nicht nur nach dem Dämmwert beurteilen!" Er habe selbst Vorschläge zur Optimierung vorgelegt, diese seien jedoch "nicht einmal angeschaut" worden.

Vom Zuspruch der Rettungskampagne ist Graf selbst überrascht. Vielleicht verhilft die Zuneigung, die die "Betonmonster" jetzt vielerorts erfahren, auch dem Kulturzentrum Mattersburg zu einem zweiten Frühling.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 14./15.11.2015