Mit dem Bleistift in die Zukunft: Anime Architektur und imaginäre Städte

Urbane Bühnenbilder: Die Ausstellung "Anime Architektur" im Berliner Museum für Architekturzeichnung zeigt mit Originalbildern aus Animationsfilmen die Faszination japanischer Comic-Künstler für die Stadt als Setting für Utopien und Dystopien - oder beides zugleich.

Japan, im Jahre 2030: Eine Horde junger rebellischer Jugendlicher rast mit ihren Motorrädern auf unbeleuchteten und maroden Stadtautobahnen in die verbotene Zone des alten Tokio, wo seit einem Atomkrieg vor 38 Jahren nichts als ein pechschwarzer nuklearverseuchter Bombenkrater gähnt. So apokalyptisch beginnt Katsuhiro Otomos epochales Anime-Epos "Akira", das in sechs Bänden zwischen 1982 und 1990 erschien. Es gipfelt nicht weniger apokalyptisch in der physischen Verschmelzung des Antihelden mit der Stadt.

Akira läutete eine neue Ära des Animes ein, in dem Metropolen als Ort der Handlung eine tragende Rolle spielen. Eine Auswahl von Illustrationen für Anime-Filme jener Ära ist zur Zeit in der Tchoban Foundation, dem Museum für Architekturzeichnung in Berlin, zu sehen. Hier steht nun die Welt der Comics vollwertig neben Klassikern der Architekturzeichnung wie den endlosen Unterwelten in Giovanni Battista Piranesis Carceri oder den wild zersplitterten Architekturlandschaften von Lebbeus Woods.

Die Ausstellung versammelt Hintergrundbilder der Filme Patlabor (1989), Ghost in the Shell, (1995) und Innocence (2004), allesamt konzipiert von Regisseur Mamoru Oshii und den Künstlern seines Animationsstudios, Artdirector Hiromasa Ogura und die Layouter Atsushi Takeuchi und Takashi Watabe. Es sind Stadt-Amalgame aus realen und fiktiven Versatzstücken, hier ein verfremdetes Hongkong, dort ein in die Zukunft extrapoliertes Tokio im permanenten Umbruch. Ruinen und Baustellen, Archaisches neben Futuristischem. Blendet man den actionreichen Plot im Vordergrund aus, wird die Stadt als Setting selbst zum Akteur.

Die nach genauem Farbkonzept kolorierten Filmhintergründe leuchten in satten Farben, in deutlichem Kontrast zu den bernsteindunklen Kabinetten der 2013 eröffneten Tchoban Foundation. Wie schwarzweiß skelettierte Versionen dieser Bilder dagegen die im oberen Stockwerk gezeigten Bleistift-Arbeitsskizzen. Eine Gegenüberstellung, die die genau geregelte Produktionsweise der Animationsstudios und ihrer als Auftragsarbeiten entstandenen Filme sichtbar macht.

Konzipiert wurde die Ausstellung vom deutschen Kurator Stefan Riekeles, der schon im Jahr 2007 in Tokio unterwegs war, um die Arbeitswelt der Animationsstudios vor Ort zu erkunden. Besonders faszinierten ihn die Handzeichnungen - die letzten Exemplare der vordigitalen Ära. Heute werden Hintergrundblätter nur noch in wenigen Fällen von Hand gezeichnet. "Die Zeichner selbst sahen die Blätter nicht als Kunstwerke, sondern als Mittel zum Zweck. Sie haben sich geradezu für das Unfertige der Zeichnungen geschämt und wollten sie kaum herausgeben“, sagt Riekeles zum Standard. "Ich fand aber gerade den sichtbaren Entstehungsprozess toll, inklusive der Notizen am Rande."

Die Stadt als Akteur wird dabei bewusst als filmisches Mittel eingesetzt: In allen gezeigten Animes gibt es Szenen, in denen die Handlung ausgebremst wird und die Helden zu ätherischem Soundtrack langsam durch präzise dargestellte Stadtlandschaften spazieren. Ein atmosphärisch grundiertes Zwischenspiel, bevor die Verfolgungsjagden wieder Fahrt aufnehmen und wieder mit der Pumpgun in der Hand über Hausdächer und auf Dschunken gehechtet wird. Für diese stadtpanoramischen Szenen wurde in den Studios besonders viel Zeit und Geld aufgewendet.

Eine Bildwelt, die sich stark unterscheidet von der großäugigen, fast karikaturenhaften Überzeichnung früherer Animes. "Wir sehen hier eine quasi-realistische Auseinandersetzung mit der Stadt“, so Riekeles. "Die Grundlage bildet eine tatsächliche Metropole, die dann zerstört oder durch eine andere ersetzt wird. Die Science Fiction entsteht aus der vorhandenen urbanen Atmosphäre." So spiegelt Patlabor das Tokio vom Ende der boomenden 1980er Jahre, in denen sich das Gesicht der Stadt rasant wandelte. Ghost in the Shell versetzt seine Szenerie in ein modifiziertes Hongkong. "Für die Japaner ist das eine leicht exotische Stadt, halb fremd und halb vertraut, und dank dieses Verfremdungseffekts das ideale Setting für eine Story, die 10 Jahre in der Zukunft spielt," erklärt Riekeles. Die Szenerie von Innocence dagegen ist ein imaginärer Hybrid aus verschiedenen Städten, angesiedelt irgendwo im Norden Japans.

Imaginäre Städte üben seit jeher eine Faszination auf uns aus, ob sie utopisch, dystopisch oder beides sind. Das fantastische Panorama reicht von den Idealstädten des Barock über Le Corbusiers aufgeräumte Hochhausvisionen der Ville Radieuse bis zu optimistischen Zukunftsträumen auf Weltausstellungen, von gescheiterten Paradiesen im Dschungel oder unter Wasser bis hin zu sündenfreien Idealstädten des religiösen Jenseits und sündigen Babylons wie Fritz Langs Metropolis.

Der irische Autor Darran Anderson hat genau ihnen ein Buch gewidmet. Sein 2015 erschienenes Mammutwerk Imaginary Cities ist eine atemlose Tour de Force durch die Geschichte menschlicher Stadtkonstrukte. Auch die Stadtvisionen der japanischen Zeichner werden nicht ausgespart: Von der Anime-Dystopie des nuklearen Tokio in Akira schlägt er die Brücke zu den "Atomic Cities" des Kalten Krieges in Nevada und hinter dem Ural.

"Das Besondere an Animes wie Akira und Ghost in the Shell ist die Art, wie physische Welt und Biologie verschmelzen", sagt Anderson zum Standard. "Die Stadt absorbiert den Menschen, sie verändert ihn, und er versucht sich zu wehren. Die Erkenntnis daraus: Die Stadt der Zukunft ist verführerisch wie eine Sirene, aber wir zahlen einen furchtbaren Preis dafür."

Doch warum fasziniert die Vorstellung zukünftiger und möglicher Städte nicht nur Anime-Zeichner und megalomane Diktatoren, sondern uns alle? "Weil wir Städte bewohnen, ohne genau zu verstehen, wie oder warum. In Städten kollidieren Menschen und Ideen. Diese menschengemachten Konstrukte bieten sich fürs Geschichtenerzählen an. Die Natur steht still, sie ist sozusagen unschuldig. In der Stadt dagegen erzählen wir Fabeln von Moral, von menschlichen Werten."

Die Städte der Animes sind weder perfekte Utopien noch Dystopien, sondern in ihrem ständigen Umbruch Labors der Veränderung und nicht zuletzt Zeichen der permanenten Unsicherheit im regelmäßig von Katastrophen heimgesuchten Japan. "Es gibt keine exklusiven Utopien oder Dystopien“, sagt Darran Anderson. "In jedem Paradies gibt es Untergebene, in jeder Höllenwelt gibt es Sadisten, die Spaß haben. Es ist immer beides."

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 17./18.09.2016