Mit Bierkisten gegen das Dorfsterben

Das Architekturbüro nonconform entwickelt Strategien zur Belebung von Dörfern und Gemeinden. Dazu schlagen sie einfach ihr Quartier vor Ort auf – und hören den Leuten zu. Ihre Erkenntnis: Am Land ist man viel progressiver, als es die Vorurteile glauben machen.

Hans-Peter Bock, der Bürgermeister von Fließ, hatte ein Problem. Das Ortszentrum der 3000-Seelen-Gemeinde im Tiroler Bezirk Landeck lag im Sterben. Die Wirtshäuser hatten eines nach dem anderen zugesperrt, der letzte Greißler auch. Das Gemeindegebiet erstreckt sich von 800 bis 1580 Höhenmeter und besteht aus 99 verstreuten Weilern. Die Alten, die in abgelegenen Höfen wohnen, schafften es ohne Auto nicht in den Kernort und vereinsamten. Zwar ist Fließ keine schrumpfende Gemeinde, doch diese Probleme teilte es sich mit vielen anderen in Österreich. In kleineren Orten kann schon das Fehlen eines wesentlichen Grundzubehörs - Post, Markt, Wirtshaus - das Gemeindeleben gefährden.

Auch der Bürgermeister von Zeillern im Mostviertel hatte ein Problem. Man nannte sich zwar "Wohlfühlgemeinde", aber von diesem Label konnte man sich nicht viel kaufen. Es gab kaum Gewerbe, dafür ein Schloss, das zwar schön war, aber viel Unterhalt kostete, eine Kirche, die schwer zugänglich war, zwischen Schloss und Kirche gab es nichts, und der Dorfplatz war längst dem Durchgangsverkehr zum Opfer gefallen. Nicht existenzgefährdend, aber langfristig musste man sich fragen: Was ist unsere Identität, und wo wird sie sichtbar? Die Antwort, das war klar, konnte nicht einfach nur ein neues Marketing-Label sein.

Heute ist der Bürgermeister von Fließ zufrieden. Er sitzt in einer mit Holz ausgekleideten Amtsstube in einem brandneuen Gemeindeamt, im Haus daneben haben eine Arztpraxis und ein M-Preis ihre Türen geöffnet, davor eine regengeschützte Sitzbank, auf der die Alten sich treffen, das Dorfleben beobachten, auf den Bus warten. Auf der anderen Seite des Hofes ein neues Wohnhaus. Mietwohnungen waren im ländlichen Raum bisher als ärmlich verschrien, hier war Häuslbauen und Eigentum Pflicht, doch Alleinerziehende, Ältere und Jungfamilien bauen sich heute keine Häuser mehr. Jetzt wohnen sie im Zentrum.

Auch die Zeillerner sind heute zufrieden. Zwischen Kirche und Schloss gibt es seit 2012 einen neuen Platz. Hochzeitsgesellschaften lassen sich hier fotografieren, Blasmusikkapellen musizieren, man kann sitzen und sich auf Schautafeln informieren, was in der Gemeinde passiert. Im Schloss wird musiziert, passend zur neuen Ortsidentität als Ort der Musik. Ach ja, und der Platz ist obendrein knallrot.

Was hat die beiden Gemeinden so wiederbelebt? In erster Linie die Bürger selbst. Denn der Wandel nahm seinen Anfang in einem dreitägigen Workshop, genauer gesagt, einer "Ideenwerkstatt". In Fließ wurde diese 2012 zur Grundlage eines Architekturwettbewerbs, dessen Entwürfe den Bürgern öffentlich präsentiert wurde. Das Siegerprojekt von Rainer Köberl und Daniela Kröss wurde umgesetzt und 2015 eröffnet. In Zeillern fand der Workshop im Jahr 2005 statt, der "Rote Platz" wurde, nach finanzkrisenbedingter Verspätung, 2011 eröffnet.

Nun sind Bürgerbeteiligungen ein zweischneidiges Schwert. Viele Bürgermeister, Planer und Gemeinderäte arbeiten lieber in Ruhe vor sich hin, als sich einen solchen Prozess anzutun, mal aus Vorurteilen, mal aufgrund schlechter Erfahrungen. Es gehört schon ein gewisses Durchhaltevermögen dazu, sich in eine Turnhalle voller potenzieller Wutbürger zu stellen, bei denen üblicherweise die Lautesten und Aggressivsten die meiste Redezeit beanspruchen.

Dass das auch anders geht, und wie genau, das erfährt man im Wiener Architekturbüro mit dem programmatisch unangepassten Namen nonconform. Auf den ersten Blick ein typisches Kreativbüro: Altbau, Erdgeschoss, Hinterhof, Josefstadt, hohe weiße Räume, Metallregale, Pläne an der Wand. Doch nonconform sind insofern tatsächlich ungewöhnlich, als sie ihr Büro regelmäßig in Gemeindesälen, Wirtshäusern und Schulen aufschlagen und gemeinsam mit den Dorfbewohnern Pläne entwickeln. Zum Beispiel in Zeillern oder Fließ.

Dabei hat es alles ganz gewöhnlich angefangen, erinnern sich die nonconform-Architekten Caren Ohrhallinger und Roland Gruber. Nach der Gründung 1999 kam man schnell zu Aufträgen, wie sie für junge Büros üblich sind. Irgendwann jedoch habe man sich gefragt, ob das wirklich alles sein könne. Zwei gewonnene Wettbewerbe weit von Wien - in Stadt Haag und Maria Saal - hatten die Tür zum weiten Land geöffnet. "Wir hatten damals ein viel publiziertes Kleingartenhaus gebaut, und plötzlich klingelte jeden Tag das Telefon, und jeder wollte auch genau so eins," erinnert sich Caren Ohrhallinger seufzend. "Schon schön, aber wenn man nicht Psychotherapeut spielen und streitenden Ehepaaren zuhören will, kommt man damit nicht sehr weit." Also verordnete sich nonconform lieber selbst eine Selbstfindungstherapie, mit dem Ergebnis, dass man lieber mit Bürgern und Gemeinderäten diskutieren wollte, als am Wochenende mit Häuslbauern die schönste Klobürste herauszusuchen. "Außerdem bin ich in einem Kärntner Bergdorf aufgewachsen und hatte schon immer eine gewisse Liebe für die Orte "da draußen", so Roland Gruber.

Ende 2005 entschloss man sich, "nonconform vor Ort" ins Leben zu rufen. Kurz danach rief schon der erste Bürgermeister an. Er brauchte Rat, was man mit dem Gemeindeamt in Zukunft anstellen solle. "Wir sagten: Gut, wir kommen zu Euch und machen ein Büro auf!", sagt Roland Gruber. Und das tat man: Für drei Tage wurden Laptops und Zeichenstifte ausgebreitet, und vor allem: zugehört. Am dritten Tag wurden die gesammelten Ideen der Bürger in Bildern und Plänen dargestellt, diskutiert und das weitere Vorgehen beschlossen. Diese sogenannte "Ideenwerkstatt" ist Bürgerbeteiligung ohne wutbürgerliche Empörungsexzesse.

Wie das funktioniert? "Wir haben keine Hemmschwellen. Es hat auch nichts Esoterisches, eher gemütliche Stammtisch-Atmosphäre“, erklärt Roland Gruber. Durch das permanent offene Büro erreicht man auch Leute, die großen Versammlungen sonst eher fernbleiben, wie Caren Ohrhallinger erklärt. "Nicht jeder will ja in einer großen Runde von 50 Leuten aufstehen und etwas sagen. Im kleineren Rahmen ist das ganz anders". Vor allem kämen so auch Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche dazu, ihre Meinung zu sagen.

Nebenbei bekommen die Bürger auch live mit, wie Architekten eigentlich arbeiten, und dass sie entgegen dem Klischee weder ausschließlich schwarz angezogen sind, noch mit bereits fertigen Plänen anrücken. "Wir essen dort im Wirtshaus, wir sind im Alltagsleben präsent. Man lässt an jedem Ort ein bisschen von sich dort," ergänzt Caren Ohrhallinger. "Und weil wir als Außenstehende nicht in örtliche Rivalitäten eingebunden sind, können wir uns leisten, den Finger auf wunde Punkte zu legen." Ganz wesentlich für die Atmosphäre: Es steht immer die Bierkiste im Raum. Mit dem Bier in der Hand, so die Architekten, diskutiere sich sofort entspannter über Pläne für die Zukunft.

Was sind nun die Probleme, die es am Land zu lösen gilt? Häufig sind es aussterbende Ortskerne wie in Fließ, oder Brachflächen, mit denen man noch nichts anzufangen weiß. Für Architekten bedeutet das oft ein Umdenken: In der Regel braucht ein kleiner Ort keine Masterpläne Marke Seestadt Aspern. Oft hängt das Glück der Gemeinde an kleinen Dingen, die man als Architekt als unwichtig abtun würde, die aber von den Bürgern im Alltag als neuralgisch empfunden werden. Andere sind blinde Flecken, die nur ein Außenstehender mit unbefangenem Blick erkennt. Am Ende von drei Tagen Diskussionen einigt man sich, das Tor zum Sportplatz für die Jugendlichen wieder aufzuschließen, den Schandfleck an der Ortsdurchfahrt zu beseitigen, oder ein Eigentümer bietet der Gemeinde ein dringend benötigtes Stück Grundstück an.

Nonconform sind selbst erstaunt, wie wenige Architekten bisher ihrem Beispiel gefolgt sind. Zu tun gebe es auf dem Land nämlich mehr als genug. Dennoch sind sie nicht alleine auf dem weiten Feld. Dorferneuerer, Raumplaner, Tourismusmanager, engagierte Bürger und Bürgermeister entwickeln Ideen, ihren Ort oder ihre Region am Leben zu erhalten. Diese haben inzwischen längst ein österreichweites Netzwerk etabliert. Eines davon ist „Landluft“, der Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen. Der von Landluft vergebene Baukultur-Gemeindepreis ging erstmals 2009 an die Vorarlberger Gemeinde Zwischenwasser, die seither als das große Vorbild gilt, etwa was Bürgerbeteiligung und Energiepolitik angeht. 2016 wurden auch Fließ und sein Bürgermeister ausgezeichnet.

Man sieht: Der große Bruch zwischen progressiver Stadt und verunsichertem Land, wie er von vielen erstaunten Kommentatoren angesichts des Wahlverhaltens bei der Bundespräsidentenwahl diagnostiziert wurde, lässt sich, wenn man genauer hinschaut, nicht halten. Auch im Waldviertel, in Tiroler Tälern und obersteirischen Industrieregionen gibt es reichlich Innovation und Offenheit. Der Bruch besteht möglicherweise eher zwischen den fortschrittlichen Gemeinden und denen, die so weitermachen wie bisher. Manchmal fehlt schlicht das innovationsfreudige Personal, wie Caren Ohrhallinger konstatiert: „Es gibt so etwas wie eine natürliche Auslese. Manche Orte haben den Drive, andere nicht. Wir lernen nur die fortschrittlichen kennen, denn die anderen kommen gar nicht zu uns“.

Und dann gibt es natürlich solche, deren Probleme sich auch in einem dreitägigen Workshop nicht lösen lassen. Nämlich die, in denen die Abwanderung so stark ist, dass sie nur noch die Schrumpfung verwalten können, oder solche, in denen der „Donut-Effekt“ mit seiner Zersiedelung an den Rändern den Ortskern soweit ausgehöhlt hat, dass es kaum noch reversibel ist.

Wie geht man mit Landflucht und Schrumpfung um? Auch hier suchen nonconform nach Antworten. Die von ihnen begründete internationale Leerstandskonferenz findet seit 2011 jährlich an wechselnden Orten statt, die Geschichten von Leerstand und Abwanderung zu erzählen haben. Leoben, Eisenerz, Fresach, St.Corona am Wechsel. Nicht zuletzt, um sich mit Städten und Regionen in Deutschland auszutauschen, die ähnliche Probleme haben.

Kann man junge Leute, die zum Studieren in die Großstadt gehen, überhaupt wieder ins Heimatdorf zurückholen? „Es geht gar nicht darum, entweder dort oder hier zu leben. Ein  Sowohl-als-auch funktioniert vielleicht viel besser“, sagt Roland Gruber. Zu diesem Zweck haben nonconform in einem Ladenlokal im 4.Bezirk das sogenannte „Kommunalkonsulat“ eröffnet. Hier können sich in Wien ansässige Abgewanderte und in der Heimat Verbliebene zum Austausch treffen. „Wir machen darauf aufmerksam: es geht nicht drum, zu jammern, dass die jungen Leute fortziehen, sondern zu lernen, mit deren wissen etwas zu machen. Dazu müssen die nicht unbedingt zurückziehen, man braucht nur eine Verbindung, eine Nabelschnur. Solche Leute sind dann später auch bereit, in ihrem Heimatort zu investieren.“

 

Erschienen in: 
Falter 4/2017, 25.01.2017