Lernen von Prishtina

Die Ausstellung „Balkanology“ im AzW entdeckt den Turbofolk der Architektur in Südosteuropa

Der Balkan beginnt am Rennweg. Falsch. Der Balkan beginnt exakt südlich der Linie Triest-Odessa. Blödsinn. Balkan ist alles zwischen Wien und Athen. Unfug. Oder?

Fragt man 100 Menschen, was sie mit dem Begriff „Balkan“ assoziieren, bekommt man 100 Meinungen. Meistens abschätziger Natur – immer noch wird das Klischee des Wilden, Chaotischen und Unzuverlässigen aus der muffigen k.u.k-Kiste geholt. Falls sich das nabelschauende Österreich überhaupt dafür interessiert, was hinter dem Rennweg passiert.

Die eben eröffnete Ausstellung „Balkanology“ im Architekturzentrum Wien besetzt bewusst plakativ den umstrittenen Begriff, um ihn neu aufzuladen. Wobei zumindest der chaotische Aspekt des heutigen Südosteuropas – so der neutrale Begriff – bestätigt und gleich mit ausgestellt wird.

In Zusammenarbeit mit dem Berliner Kurator Kai Vöckler und dem Schweizer Architekturmuseum Basel, stellt die Ausstellung den Fokus auf das Bauen im ehemaligen Jugoslawien, der mit der berührenden Bogdan Bogdanovic-Retrospektive Anfang des Jahres begonnen hatte, noch ein Stück schärfer. Ein besonderer Verdienst ist, dass auch bislang weiße Flecken auf der architektonischen Landkarte wie Albanien und der Kosovo plötzlich farbig werden wie die tristen Wohnblocks, die Tiranas exzentrischer Künstler-Bürgermeister Edi Rama von seinen Bürgern bunt bemalen ließ.

Nach der rapiden Abfolge von Titosozialismus, Bürgerkrieg und Neuaufbau kommen heute gerade die informellen Qualitäten des Balkans zum Tragen. Erklärt wird diese nicht in einem allwissenden Blick von außen, sondern aus Sicht der Beteiligten selbst – kleiner, junger Initiativen und Planer aus Zagreb, Skopje, Prishtina und Tirana.

Denn das Bauen, vor allem im südlichen Balkan, bewegt sich heute im Spannungsfeld von Migration und Neoliberalismus, ein idealeres Labor für die Chancen und Probleme von morgen lässt sich also kaum denken. So musste Prishtina nach dem Ende des Kosovokrieges mit einer Flut von zurückkehrenden Flüchtlingen zurechtkommen, die Einwohnerzahl verdoppelte sich nahezu, Wohnraum war nicht vorhanden und Baugenehmigungen nicht zu bekommen. Also machte man es selbst, in kurzer Zeit entstanden wild wuchernde Siedlungen mit abenteuerlicher Do-it-Yourself-Architektur. Finanziert wird diese von Familienangehörigen in Mitteleuropa – ein Viertel aller Kosovaren lebt im Ausland.

„Turbo-Architektur“ nennt der Architekt Srdjan Jovanovic Weiss in Anlehnung an den „Turbo-Folk“ diese antimoderne und antitraditionelle Bauweise, die sich vor allem aus den via Medien importierten Träumen vom „guten Leben“ speist. Das Material dazu holen sich die Goran Bregovice des Baubooms einfach aus dem Baumarkt.

Die Ausstellung nimmt diese enorme Dynamik der „makeshift architecture“ ernst, ohne sie zu romantisieren. Die wilden Siedlungen in Prishtina und die wie abenteuerliche Collagen aus Bauklötzen wirkenden Dachaufbauten Belgrads werden in nüchternen Fotografien dokumentiert. Zusammen mit den Analysen der lokalen Initiativen, die vor Ort das Bewusstsein für diese Entwicklungen schärfen, nimmt dies den sehr dichten und konzeptionellen ersten Teil ein. Die Ausstellungsarchitektur bündelt diese Dichte hier wirksam in ruhigen, hinterleuchteten Quadern, während im zweiten, architektonischen Teil, die zackigen Schautafeln luftig im Raum schweben. Für Abstraktionsscheue bietet es sich durchaus an, zunächst hier anzufangen.

Man kann dann gleich staunen über den jugoslawischen Pavillon der Weltausstellung 1958 in Brüssel, der an konstruktiver Raffinesse den legendären österreichischen, vulgo 20er-Haus, von Karl Schwanzer noch übertrifft, und herausragende Beispiele der sozialistischen Moderne wie das eisschollenartig aufgefaltete Opernhaus in Skopje, heute umstritten und von expandierenden Bürovierteln bedrängt.

„Es gibt in ganz Ex-Jugoslawien kein Gebäude, das nicht politisch wäre“, so AzW-Direktor Dietmar Steiner. Und natürlich tauchen die Spuren der Kriege der 90er Jahre immer wieder auf, am Erschütterndsten im radikal schlichten Mahnmal für das Massaker von Srebrenica.

Keine leicht verdauliche Ausstellung, aber die Turbofolk-Tour de Force lohnt sich und lässt hoffen, dass das erwachende Interesse Wiens für den Balkan – siehe Ost-Klub, der passenderweise gleich bei der Eröffnung im AzW gastierte – weiter gedeiht und der träge Wiener, von Neugier erfasst, vielleicht einfach mal hinfährt und nachschaut.

Vom AzW zum Rennweg sind es schließlich nur 1500 Meter.

(Erschienen in FALTER, 22.10.2009)