Land ohne Ende: Unvollständiges Italien

Seit zehn Jahren katalogisiert ein Künstlerkollektiv unvollendete Bauten in Italien. Sein Ziel: das "incompiuto" zum Stil zu deklarieren

Ein leerer Platz, gerahmt von Gestrüpp und überwucherten Treppen. Darüber thront ein Gebilde, das aussieht, als habe ein betrunkener Bildhauer ein Parkhaus für ausrangierte Raumgleiter aus Star Wars erbaut. Ein Bauzaun unten, rostige Bewehrungseisen oben, dazwischen ein Gebirge aus grauen Gewölben mit fratzenartigen Löchern darin, ein Scherenschnitt aus Sichtbeton. Dass dies einmal ein Theater werden sollte, weiß man nur, wenn man es weiß. Kein Mensch weit und breit. Dabei ist dies das Zentrum einer Kleinstadt – oder sollte es sein. Der Ort Gibellina Nuova im Westen Siziliens wurde ab 1971 komplett neu errichtet, nachdem das alte Dorf Gibellina 1968 von einem verheerenden Erdbeben komplett zerstört wurde.

Der flamboyante Bürgermeister Ludovico Corrao lud dafür Architekten und Künstler ein, die dem neuen Gibellina Gestalt und Seele geben sollten. Viele Jahre passierte wenig, und auch danach passierte nicht viel. Heute wohnen 5000 Menschen hier anstatt der anvisierten 50.000. Manches wurde begonnen, anderes blieb Idee, und vieles, wie das Theater, wurde begonnen und nie fertig gestellt. Dazwischen herrschen Gras, Beton, Leere: "incompiuto" – unvollendet.

Ein Bild, das in Sizilien keine Seltenheit ist. Hier, wo sich Landstraßen mitten auf einem Feld plötzlich in eine vierspurige Autobahn verwandeln, um einen Kilometer weiter urplötzlich wieder Landstraße zu werden. Es liegt etwas Surreales in diesen unvermittelten Brüchen und etwas Trauriges in ihrer sinnlosen Willkürlichkeit.

Ein wahres Konzentrat des Unvollendeten ist die 28.000-Einwohner-Stadt Giarre bei Catania. Ein Kinderspielpark, ein Krankenhaus, ein riesiges (aber leider einen Meter zu kurzes) Schwimmbad: Alles wurde im Rausch des Machbaren begonnen, dann blieb die Zeit stehen. Die Krönung des Unvollendeten: ein Polostadion für 20.000 Zuschauer. Eine besonders wagemutige Idee angesichts der Tatsache, dass sich in Italien kaum jemand für den Polosport interessiert, erst recht nicht im Niemandsland am Rande einer Kleinstadt. Aber vielleicht sollte es auch nie fertig werden. Denn in Italiens Boomjahren der 1970er und 1980er war die beste Methode, die Geldflüsse am Fließen zu halten, die Gefäße ohne Deckel, offen zu lassen – "incompiuto".

Für viele Italiener eine peinliche Episode, über die man lieber den Mantel des Schweigens breitet. Nicht so das fünfköpfige Mailänder Künstlerkollektiv Alterazioni Video. Bei einem Besuch in Sizilien waren die Mitglieder des Kollektivs so von den dortigen modernen Ruinen fasziniert, dass sie 2008 das Projekt "Incompiuto Siciliano" starteten.

Es folgte ein Incompiuto-Festival in Giarre, eine Präsentation auf der Architekturbiennale Venedig 2010 und – wie es sich für eine italienische Künstlergruppe gehört – ein Zehn-Punkte-Manifest. "Der Incompiuto Siciliano hat keine rationale Haltung, ganz im Gegenteil", heißt es da. "Nur eine leidenschaftliche Beziehung zum eigenen Land kann ein solches Phänomen entstehen lassen."

Man könnte auch etwas zynischer sagen: Ein Land, das mit so viel Schönheit gesegnet ist, muss irgendwo das Gegenteil produzieren. Doch Alterazioni Video sehen die Landschaft als unverzichtbaren Teil des Incompiuto: "Feigen, Wiesen, Kakteen, Beton und Eisen verbinden sich zu einem wiedererkennbaren Stil." Eine posthumane Landschaft, die man wie ein antiker Philosoph durchwandeln kann. Existenzialismus im halbfertigen Polostadion.

Die Künstler begnügten sich jedoch nicht mit hochfliegenden Manifesten, sie begannen auch, die Beispiele das unvollendeten Italiens systematisch zu katalogisieren. Insgesamt mehr als 600 Beispiele aus ganz Italien haben Paololuca Barbieri Marchi, Alberto Cafarelli, Matteo Erenbourg, Andrea Masu und Giacomo Porfiri über die Jahre archiviert. Das 2018 zum zehnjährigen Jubiläum erschienene Buch "Incompiuto – la nascità di uno stile" versammelt Beispiele aus ganz Italien. Straßenbrücken im Nirgendwo, halbfertige "palazzi dello sport", zusammengefallene Pensionistenheime. Manchmal, wenn der Bau erst kurz vor Vollendung aufhörte, sieht man den Bauten die Zeit ihrer Entstehung an. Weiße Moderne, pastellfarbene Postmoderne, zackige Techno-Moderne, alle vereint im ewigen Interruptus einer Zukunft, die nie kommt.

Italien erscheint als prädestiniertes Land der Ruinen, mit seiner Landschaft, die selbst den Pfeilern einer Autobahnbrücke etwas Arkadisch-Romantisches verleiht. Die Idee von Alterazioni Video, diese Ruinen nicht als Schande, sondern als Chance zu sehen, leuchtet ein. Doch funktioniert diese Neubewertung wirklich? Das Unvollendete als "Stil", die stummen Zeugen der Korruption als Coffee-Table-Book? Werden hier politisches Scheitern, das Plündern öffentlicher Gelder und ökologische Schadensfälle mit nonchalant-theatralischer Geste ästhetisiert? Das Wort "Mafia" und seine regionalen Synonyme sucht man im Buch vergebens.

Doch was, wenn es hier um etwas ganz anderes geht? Was, wenn Architektur gar nicht das Match zwischen heiligem, für immer konserviertem Altem und umstrittenem Neuem ist, als das sie immer dargestellt wird, sondern ein Prozess? Was, wenn wir jedes (wirklich jedes) Bauwerk als per se unvollendet ansehen? Ein weites Feld der Möglichkeiten tut sich plötzlich auf. Und auch hier lohnt der Blick in die Vergangenheit, nach Sizilien.

Nicht weit von Gibellina Nuova, auf einem Hügel, eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Insel: der Tempel von Segesta. Erbaut im 5. Jahrhundert vor Christus, ist er weit besser erhalten als viele andere dorische Tempel. Dies hat vor allem einen Grund: Der Tempel ist eines der ersten Beispiele des Incompiuto Siciliano. Auch er wurde nie vollendet. Seine Säulen weisen noch die Steinnasen auf, die nur zum Transport der großen Steine an den Ort dienten und normalerweise danach entfernt wurden. Da er somit auch nie geweiht wurde, konnte er auch nicht entweiht werden. Manchmal lebt das Unvollendete länger als das Vollendete. Vielleicht wird das unfertige Italien, das Land ohne Ende, uns alle überleben.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 9.2.2020