Land im Blindflug: Architektur und Brexit

Britische Architekten sehen die Zukunft von Bauwirtschaft und Kreativindustrie gefährdet. Boris Johnsons Verständnis von Architektur dürfte das Problem verschlimmern.

"Eine erniedrigende Erfahrung", anders könne sie das nicht beschreiben. So das resignierte Urteil der südafrikanischen Stadtforscherin Zahira Asmal. Was war passiert? Die Urbanistin war von der britischen Architecture Foundation zu einem Vortrag im September nach London geladen worden, scheiterte aber an den Visum-Schikanen der britischen Behörden. "Man wird nicht als Gast behandelt, sondern als Kriminelle", schrieb sie, und Phineas Harper von der Architecture Foundation klagte: "Die Feindseligkeit des Innenministeriums gegenüber ausländischen Besuchern gefährdet die gesamte Kreativindustrie." "Hostile Environment" gegenüber illegalen Ausländern lautete die Strategie, die die damalige Innen- und spätere Premierministerin Theresa May 2012 ausgegeben hatte, und die daraus resultierende passiv-aggressive Inkompetenz der Bürokratie hat sich im Zuge des Brexit-Chaos zur Feindseligkeit gegenüber allen Ausländern ausgewachsen.

Noch dazu geht der inzwischen drei Jahre andauernde Schwebezustand britischen Architekten immer mehr auf die Nerven. Im Oktober 2018 unterzeichneten mehr als 1000 von ihnen, darunter Norman Foster, Richard Rogers und David Chipperfield, einen offenen Brief an Theresa May, in dem sie davor warnten, dass der Brexit "verheerend" für ihren Beruf wäre. Der Erfolg der britischen Architektur wäre ohne die Mitgliedschaft in der EU niemals zustande gekommen. Auch Rem Koolhaas äußerte in einem Interview im Mai dieses Jahres sein Unverständnis. "Ich habe hier gelebt, als das Land EU-Mitglied wurde, und selbst erfahren, wie es zu einem besseren Ort wurde."

Seitdem der eigentliche Brexit-Termin am 29. März verstrich, die Regierung der Wirtschaft auch weiterhin keine Klarheit über die Zukunft verschaffen konnte und die Gefahr eines ein No Deal stieg, werden auch die Reaktionen der Architekten deutlicher. Im Juni schlossen die Büros Foster und Rogers nicht aus, dass die Firma das Land verlassen könnte, falls es nicht mehr möglich sei, hochqualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland einzustellen. Sollte es zu einem No Deal kommen, entfällt über Nacht die gegenseitige Anerkennung der Berufsqualifikation zwischen Großbritannien und der EU. Für EU-Ausländer im Vereinigten Königreich müsste man ein neues System entwickeln. Davon ist aber noch nichts zu sehen.

Auch die britische Immobilienwirtschaft richtete an den neuen Premierminister Boris Johnson den dringenden Wunsch nach einem geordneten Brexit. Man dürfe den Wohnungsmarkt nicht vergessen, hier müssten dringend 25 Prozent mehr Wohnungen gebaut werden. Ein No Deal, so Ben Derbyshire, Präsident des Royal Institute of British Architects (RIBA), wäre eine Katastrophe für die Bauindustrie.

Dabei hatte Boris Johnson in seiner Amtszeit als Londoner Bürgermeister durchaus eine Nähe zur Architektur. Allerdings vor allem für bombastische Protzprojekte, die kurzfristig gute PR garantieren, aber bald zur Altlast wurden. Etwa der Emirates Cable Car, der von nirgendwo nach nirgendwo über die Themse gondelt, und das meistens ohne Passagiere. Der Arcelor Mittal Orbit neben dem Olympiastadion, ein Turm, der aussieht wie ein schlimmer Auffahrunfall aus roten Baukränen. Eine Idee, die Johnson mit dem Stahlmilliardär Lakshmi Mittal ausgeheckt hatte, deren Umsetzung mehr Geld kostete und weniger Besucher anlockte als geplant und heute umgerechnet 10.000 Euro Betriebskosten pro Woche verschlingt. Das Projekt der Garden Bridge, als rein privates Investorengeschenk an die Londoner angekündigt, wurde von Skandalen begleitet und 2017 gecancelt.

Übrig blieb eine Rechnung von umgerechnet 47 Millionen Euro an den britischen Steuerzahler für eine nicht existente Brücke. Es scheint, als sei Architektur für Johnson wie ein Spielzeug, das kurz glitzert und dann achtlos zur Seite gelegt wird.

Dabei gäbe es viel zu tun, denn die Zustände abseits der Glitzerprojekte sind beschämend. Der im Frühjahr veröffentlichte Bericht des Uno-Sonderbotschafters Philip Alston offenbarte ein Land, das sich den viktorianischen Zuständen in den Romanen von Charles Dickens annähert. In der fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt leben 14,3 Millionen Menschen in Armut, 1.5 Millionen sogar in extremer Armut, vor allem dank der Austeritätspolitik der Tories seit 2010. Prognosen zufolge werden 2021 etwa 40 Prozent aller britischen Kinder in Armut leben. Die Obdachlosigkeit ist dramatisch angestiegen, die Gelder für soziale Dienste, Bibliotheken und Jugendzentren wurden ausgedünnt.

Die Reaktion der Regierung war so erwartbar wie deprimierend: Er akzeptiere den Uno-Bericht nicht, und das mit der Armut sei Nonsens, so der damalige Finanzminister Philip Hammond. Keine Frage: Es interessiert die Konservativen schlicht und einfach nicht, und Johnsons Horrorkabinett, in dem die Desaster-Kapitalisten die Oberhand haben, ist ohnehin kaum noch als konservativ zu bezeichnen. Hier wird nichts mehr bewahrt, eine Umbenennung in Destructives wäre nur konsequent.

"Die Wohnungsnot wird im Falle des Brexits nur noch schlimmer werden, denn dieser ist von Grund auf ein Projekt der Rechten", so David Madden, Professor für Stadtsoziologie an der London School of Economics, zum STANDARD: "Das erwartbare Wirtschaftschaos wird nur zu noch mehr Austerität und mehr Deregulierung des Wohnungsmarkts führen."

Auch Eugene Quinn beobachtet sein Heimatland mit Sorge. Der in Wien ansässige Brite, der mit der Vienna Ugly Tour bekannt wurde, organisierte im März eine Brexit-Tour, pünktlich zur neuen Deadline im Oktober steht die nächste an. "Ich war überrascht und enttäuscht, dass wir das erste Land sind, das der Populismuswelle zum Opfer fällt. In diesen globalen Zeiten kleiner werden zu wollen ist ein peinlicher historischer Fehler. Aber inzwischen hoffe ich sogar, dass der Brexit bald passiert, weil ich weitere fünf Jahre chaotischer Unsicherheit und Fortschrittslosigkeit einfach nicht mehr aushalten würde." Seine Brexit-Tour, so Quinn, sei auch eine Art von Therapie. Sie endet, natürlich, in einem Pub.

 

 

Erschienen in: 
Der Standard, 3.8.2019