Das Theater Brut kommt nach St.Marx. Die Event-Arena auch. Welche Kultur ergibt das? Und was hat das im fernen Wiener Osten zu suchen?
Kira Kirsch ist all over Vienna. Die künstlerische Leiterin des Theaters Brut hat diese Woche gleich zwei Premieren, eine in Margareten, eine im Kretaviertel im hintersten Favoriten. Eine Tanzperformance mit Simon Mayer hier, ein Wutbürger-Abend mit dem programmatischen Titel „An evening to RRRRRRRRRRR (rant, rave, rage, revolt, resist, rebel)“ dort.
Seitdem das Brut 2017/18 das Domizil im Künstlerhaus am Karlsplatz verlassen musste, zieht es nomadengleich durch die Bezirke. Diese Odyssee hat, wie Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler im September bekannt gab, bald ein Ende. Nachdem die Option im Augarten nichts wurde, wird bis 2024 für 7 Millionen Euro das historische Gebäude der ehemaligen Viehmarktkasse in St.Marx theaterfit gemacht, Anfang 2024 wird das Brut dort seine permanente Spielstätte eröffnen, in der Zwischenzeit (ab März 2021) gastiert man in der Nordwestbahnhalle.
Autobahn statt barocker Parkanlage, Verkehrslärm statt Vogelgezwitscher. Ein guter Ort für Kultur? Definitiv ja, sagt Kira Kirsch. „Wir haben in den letzten Jahren 90 Orte in 19 Bezirken bespielt. Dabei hatten wir eine Auslastung von rund 90 Prozent und auch keine Angst vor dem Stadtrand. Auch unser Publikum bewegt sich ja nicht unbedingt nur in der Inneren Stadt. Die jungen Leute kennen St.Marx sehr wohl, weil viele schon dort Veranstaltungen besucht haben. Wir freuen uns sehr, dass wir jetzt ein eigenes Haus bekommen, das der Szene gehört und das Umfeld mit seiner eigenen Identität prägen kann.“
Die restaurierte denkmalgeschützte alte Rindermarkthalle mag eine Attraktion sein, doch daneben breiten sich noch weite Asphaltfläche und wild wucherndes Gestrüpp aus, und über allem thront und brummt die Südosttangente. St.Marx ist ein unwirtliches Areal. Nicht erst seit gestern, denn das Erdberger Mais, wie der Wiener Osten eigentlich heißt, war schon immer der Ort, wo das deponiert wurde, was man im Zentrum lieber ignorieren wollte. Müllverbrennung, Schlachthof, Raffinerie, Kläranlage, abgeschleppte Autos, Gasometer, Krematorium. Da der Wind meist von Westen weht, weht er all diese Odeure aufs Land, den Rest schwemmt die Donau davon. Wien ist nicht die einzige Stadt, in der man im Osten all das unterbringt, was man aus den Augen und aus dem Sinn haben will. Auch Londons East End und Berlins Osten waren von Industrie, Schmutz und Arbeiterklasse geprägt, während die noblen Villen der Bürgerlichen im jeweils lauschig-grünen Westen angesiedelt waren.
Aber in der postindustriellen Gesellschaft sind es oft gerade diese Areale, die kulturell besiedelt werden. Wer die Gesamtanzahl aller Kulturzentren namens „Schlachthof“ im deutschsprachigen Raum ermitteln will, bekommt vom Strichlisten-Erstellen wunde Finger. Die Arena machte es in den 70er Jahren vor und blieb lange einsamer Kultur-Pionier in der Wüstenei zwischen Erdberg und Simmering. Jetzt folgt also St.Marx als Kultur-Hot-Spot nach. Oder doch nicht? So leicht ist das nicht zu sagen, denn die Planungen für das Areal seit Schließung des Schlachthofs 1997 gleichen eher einer Achterbahnfahrt. Im Jahr 2000 erwarb die Immobilienentwicklung St. Marx GmbH, die eigens für diese Aufgabe von der WSE Wiener Standortentwicklung GmbH gegründet wurde, welche wiederum eine Tochter der Stadt Wien ist, das Areal. Im Oktober 2008 dann die erste "Vision 2015," der zufolge St. Marx ein internationaler Standort für Wissenschaft, Medien und Creative Industries werden sollte. Auch die Übersiedlung des ORF vom Küniglberg war lange im Gespräch. Als dies scheiterte, kam mit „Neu Marx reloaded" die zweite Vision auf den Tisch, eine Mischung von Wohn- und Gewerbeflächen mit Fokus auf Kreativwirtschaft.
In der Ausschreibung zum städtebaulichen Wettbewerb 2016 hieß es voller Vorfreude, hier entstehe „ein neuer Stadtteil mit einem außergewöhnlichen Profil. Es ist das erklärte Ziel der Stadt Wien und der WSE Wiener Standortentwicklung GmbH, in Kooperation mit der Raiffeisen Property International GmbH, hier einen unverwechselbaren Standort mit überregionaler Strahlkraft zu entwickeln.“ Auch aus dieser Vision wurde nichts, denn Anfang 2019 verkündete die Stadt, dass St.Marx der Standort für die neue Eventhalle sein würde, die schon länger durch die Stadtpolitik geisterte.
Klingt alles nicht nach kulturellem Masterplan. Gibt es nicht auch eine langfristige Planung der Stadt für Wiens wilden Osten? Gibt es, aber wie üblich recht vage: Im Fachkonzept Produktive Stadt des Stadtentwicklungsplanes 2025 (STEP 2025) wird Neu Marx als gewerbliches Mischgebiet definiert. Die Kultur kommt im STEP nur am Rande vor. Stadtentwicklung wurde hier durch Standortmarketing ersetzt, bei dem irgendwann jedes kleine Grundstück seinen Markennamen mit angestrengtem Marx-Wortspiel hatte.
Der Wiener Stadtrechnungshof resümierte in seiner detaillierte Bestandsaufnahme der Planungsgeschichte für die Marxhalle in seinem Bericht im März 2020 kritisch: „Die Einschau des Stadtrechnungshofes Wien zeigte, dass eine klare und zielgerichtete Ausrichtung bzw. Positionierung hinsichtlich einer konkreten Nutzung der Marxhalle nicht gegeben war, weshalb eine Vielzahl von unterschiedlichen Nutzungskonzepten erstellt beziehungsweise in Auftrag gegeben wurde. Eine vollständige Aufstellung der in Auftrag gegebenen Konzepte konnte dem Stadtrechnungshof Wien nicht vorgelegt werden“. Der Osten der Stadt – eine Abwurfstelle für Stadtplanungsideen? Viele Masterpläne, viele Studien, die kaum mehr als ein Jahr Gültigkeit haben, ohne eine rote Linie?
Bei der WSE verweist man auf die geänderten Rahmenbedingungen. „Wir haben für die Fläche Karl-Farkas-Gasse 1 (zukünftiger Standort der Arena, Anm. d. Red.) immer auch alternativ geplant. Es gab lange eine Option, dass der ORF nach Neu Marx zieht. Diese Entscheidung hat länger gedauert als vom ORF vorgesehen war“, sagt WSE-Sprecher Mario Scalet. „Als der Bau einer Eventhalle angekündigt wurde, war auch das eine Option. Aber es war bis zur konkreten Standortuntersuchung nicht klar, ob sie wirklich nach Neu Marx kommt. Daher haben wir auch Optionen wie das Start-Up-Quartier sowie Arbeiten und Wohnen untersucht. Wir wollten prüfen, was möglich ist und alternative Entwicklungspotenziale analysieren.“
Dies trifft auch auf die drei noch freien Grundstücke im Areal zu. Für den Marx HUB bei der Station der S7 wurde 2019 ein Architekturwettbewerb unter dem Motto „produktive Stadt“ abgehalten. Hier ist man, so Scalet, im Gespräch mit den anderen Grundeigentümern (ÖBB und Immovate) über die Umsetzung des Projekts auf Basis des Wettbewerbsergebnisses. Beim Marx Quadrat jenseits der Tangente und beim NXT Marx zwischen Marx Halle und T-Center will man vorerst die weitere Entwicklung abwarten, vor allem was die WH Arena betrifft.
Für diese startete am 30.Jänner dieses Jahres der Architekturwettbewerb, mit reichlich disharmonischer Begleitmusik: Architekten und Ingenieure protestierten gegen die Auslobung als reiner Architekturwettbewerb, der die Ingenieure und Fachplaner außen vor ließ, und dass bei einer konstruktiv komplexen Bauaufgabe wie einer Eventhalle. Nach den Protesten reagierte die Wien Holding und änderte das Verfahren in einen Generalplanerwettbewerb, der ebenfalls bemängelte kurze Zeitrahmen wurde verlängert. Mit der Folge, dass sich das gewünschte Ergebnis vor der Wien-Wahl nicht mehr ausging. Der Sieger wird Ende des Jahres feststehen, 2025 soll die250 Millionen Euro teure Arena eröffnet werden und die Wiener Stadthalle als Schauplatz für Großevents ersetzen.
Doch kann eine Eventhalle das Zentrum eines Kulturquartierssein? Wie auch immer sie aussehen wird: Arenen dieser Art bestehen in der Regel vor allem aus Eingängen, Fluchtstiegen, Anlieferungszonen und sehr, sehr viel Asphalt rundherum. Ein Jahr wird das Brut direkt auf die Arena-Baustelle schauen, ab 2025 ist man direkter Nachbar. Hier Basketball-EM, André Rieu und Elton John, dort „rage, revolt, resist, rebel“? Kann das irgendetwas miteinander zu tun haben?
Kann es in der Tat, sagt Kira Kirsch. „St.Marx hat ein hohes Potenzial, auch durch die dort angesiedelten Medien- und Forschungsunternehmen und die Kultureinrichtungen wie das Globe Theater. Das ist keineswegs eine Brache. Die zukünftige Nachbarschaft zur Arena sehe ich positiv. Erstens, weil wir uns kulturell nicht abgrenzen wollen, und zweitens, weil die Eventhalle ein Zeichen ist, dass die Stadt ein großes Interesse an diesem Ort hat. Und wenn wir in unseren Spielorten „all over Vienna“ etwas gelernt und geschätzt haben, dann sind das Kooperation und Austausch.“
Was sagt die Kulturstadträtin dazu, die den rettenden Brut-Deal eingefädelt hat? Welche Rolle weist die Stadt Wien dem Standort St.Marx in kultureller Hinsicht zu? Aus dem Büro von Veronica Kaup-Hasler heißt es auf Falter-Anfrage: „Der Ort besitzt das Potential zu einem neuen kulturellen Zentrum, das abseits der innerstädtischen Institutionen liegt und trotzdem rasch und einfach öffentlich erreichbar ist. Die Stärkung einer dort ansässigen, künstlerisch aktiven Szene durch die Ansiedlung weiterer kultureller Akteure sichert nicht nur kulturelle Nahversorgung vor Ort, sondern trägt auch zur Entzerrung des Wiener Kulturbetriebs bei, der stark auf den innerstädtischen Bereich konzentriert ist. Gemeinsam mit dem Globe, dem Brut und den bereits ansässigen Film- und TV-Studios wird dieser zeitgemäße Ablösebau der Wiener Stadthalle die Gegend in einem Ausmaß dynamisieren, wie wir es uns heute, da wir dort nur auf eine betonierte Freifläche blicken, noch gar nicht vorstellen können“.
Die Stärkung von Kultureinrichtungen in den Außenbezirken war von Anfang an eine Agenda der Kulturstadträtin, die schon beim Amtsantritt Pläne für Ankerzentren und kulturelle Stadtlabore ankündigte. Eine Mega-Arena dürften sich die meisten beim Stichwort „Stadtlabor“ allerdings nicht vorgestellt haben. Dabei sind diese eine gute Idee, denn Wien hat sich bisher stets sowohl gegen die Dezentralisierung gesträubt als auch die kulturellen Brachen an der Peripherie beklagt. In der Seestadt Aspern wird immer wieder eine größere Kultureinrichtung gefordert, die Pläne für eine transdanubische Angewandte scheiterten, das Wien Museum traute sich nicht aus dem Zentrum hinaus. Dabei ist Wien eine kompakte Stadt mit gutem Öffi-Netzwerk, in der man praktisch überall hinkommt. Wenn man es eben will.
Woanders geht es schließlich auch: In Paris wurde unter Francois Mitterrand in den 1980er Jahren der ehemalige Großschlachthof am Nordostrand der Stadt in den Parc de la Villette verwandelt, eine Mischung aus Park, Hochkultur und Entertainment, bei dem an nichts gespart wurde. 1995 wurde direkt am Boulevard Périphérique, dem Pariser Autobahnring, die Cité de la Musique, ein ausschweifender Konzert-Bau von Architekt Christian de Portzamparc, eröffnet, 2015 daneben die nicht minder bombastische Philharmonie de Paris von Architekt Jean Nouvel eröffnet.
„Paris ist eindeutig ein Vorbild, was Kultureinrichtungen an der Peripherie betrifft,“ sagt Walter Rohn, Senoir Scientist am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Akademie der Wissenschaften. Rohn untersucht seit langem die kulturelle Dezentralisierung in europäischen Städten, unter anderem in seinem Buch „Die neue Kultur am Rand der Städte: Wien und Paris“. In Paris, sagt er, haben Staat und Stadt nicht nur die Randbezirke stark gefördert, sondern die Kulturpolitik auch mit Stadtentwicklungskonzepten kombiniert.
„In Wien gibt es Kultur in den Außenbezirken nur vereinzelt, beispielsweise beim Kabelwerk Meidling und beim SOHO in Ottakring, aber das waren Bottom-Up-Initiativen, bei denen sich die Stadt erst spät beteiligt hat. Der Großteil des Budgets wird hier immer noch innerhalb des Gürtels ausgegeben, obwohl zwei Drittel aller Wiener außerhalb des Gürtels wohnen.“ Die Stadtlabor-Pläne der Kulturstadträtin hält Rohn für eine gute Idee, noch gebe es aber keine sichtbaren Resultate. Und St.Marx? „Meine Idee von Stadtrand-Kultur ist eher eine von kleinteiliger Vielfalt und Beteiligung der Bewohner. Wien hat mit den Häusern der Begegnung, den Jugendzentren, Bibliotheken und Volkshochschulen schon viele etablierte Einrichtungen in den Außenbezirken, die vielleicht nicht glamourös sind, die man aber nutzen könnte. Das gibt es in St.Marx zwar nicht, aber kulturelles Potenzial sehe ich auch hier."
Vielleicht ist das unwirtliche St.Marx mit seiner Abwesenheit von bürgerlicher Bravheit und tourismuskompatibler Fassadenkosmetik tatsächlich der Ort für ein kreatives Stadtlabor. Schließlich ändert sich der gesamte Wiener Osten zurzeit rapide: In Erdberg wachsen die Triiiple-Wohntürme in die Höhe, neben dem Gasometer die drei Wohnhochhäuser The Marks, und auf nahezu allen lange unbeachteten Brachflächen dazwischen brodelt die Planungsküche. Etwas chaotisch, etwas ungeordnet, mit zahlreichen Reibungsflächen dazwischen. Die Hochkultur kann Wien schon. Im Erdberger Mais könnte Wien auch die produktive Konfliktkultur üben.