Auszeichnung für das belgische Kollektiv Rotor: Mit kritischem Realismus und subversiven Techniken weist es den Ausweg aus der Krise der Architektur.
Der seit 1992 vergebene, mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Schelling-Architekturpreis honoriert kein Lebenswerk, sondern Architekten, die "das zukunftsträchtige Bedeutsame" zu fördern. Alle zwei Jahre wird je ein Preis für Architekturtheorie und -praxis in Karlsruhe, dem Ort, an dem der namensgebende Architekt Erich Schelling wirkte, vergeben. Ersterer steht vorher fest, Letzterer wird live in einer Art Mini-Oscar-Zeremonie unter drei Nominierten gekürt. Nicht wenige von ihnen kamen später zu globalem Ruhm, etwa Zaha Hadid und Coop Himmelb(l)au.
Als Wegweiser für die Architektur hat sich der Preis zweifellos bewährt. Doch selten war die Richtung so eindeutig wie in diesem Jahr. Das "zukunftsträchtige Bedeutsame" deutet heuer so weit weg von der ikonischen Stararchitektur, wie es nur möglich ist. Nicht nur das: In Zeiten, in denen Architekten – nicht zu Unrecht – ihre von Übernormierung und Claim-Management-verseuchten Projektabläufen eingeschränkten Handlungsspielraum beklagen, verweigern sich alle vier der Resignation. Sie tun dies mit einer Mischung aus Pragmatik und listiger Subversion, wie japanische Kampfsportler, die die Bewegung des Gegners (nennen wir ihn ruhig Spätkapitalismus) umlenken.
Der Preisträger, das 25-köpfige Kollektiv Rotor, wurde 2005 in Brüssel gegründet, als sich zwei seiner Architekten nachts in einem leerstehenden Gebäude in Brüssel begegneten, und realisierten, welches Potenzial diesem innewohnte. Seitdem arbeiten Rotor konsequent an einer Architektur der Wiederverwertung, entgegen den immer schnelleren Zyklen von Komplettabriss und Komplettneubau. Sie sichten das Vorhandene, vom Gewerbebau bis zum Wandpaneel und zum Konferenztisch und setzen es neu zusammen. Gemäß der Aussage von Frei Otto: "Ökologisches Bauen heißt nicht bauen." So sieht Nachhaltigkeit aus, wenn man sie nicht als hohles Buzzword verwendet.
Als durch und durch politische Architekten tun sie dies nicht aus Lust und Laune, sondern als gesellschaftlichen Umbruch. Ihr subversiver Judo-Move ist, genau an dem Ende des Bauens anzusetzen, vor dem sich Architekten sonst scheuen: Normen und Gesetzen. Gemeinsam mit einer Juristin entwickelten sie einen Leitfaden für eine Wiederverwendung von Baumaterialien, der eine Untersuchung der legalen Rahmenbedingungen mit den praktischen Erfahrungen der Rotor-Mitglieder verbindet. Keine vermeintlich genialen Künstlerskizzen, keine Hochglanzrenderings, sondern magistratsgelbe Formulare und ein handfestes Arbeiten mit dem, was da ist.
Bis hin zur Organisation des eigenen Büros: Rotor arbeitet, ähnlich wie Assemble in London, als Kollektiv. Ein bewusstes Kontra gegen die "Meisterarchitekten", hinter deren schöner Fassade oft die Ausbeutung der Mitarbeiter steht. "Wir brauchen heute andere Modelle, wie Architekturbüros arbeiten," sagt Maarten Gielen von Rotor. "Wir entscheiden im Kollektiv, ob wir einen Auftrag annehmen oder nicht. Ausschlaggebend dafür ist: Können wir etwas verändern?" So kann es vorkommen, dass man die Teilnahme an einer Architekturbiennale verweigert, weil diese von BP gesponsert wird.
"Alles ist politisch", sagt auch Alexandre Thériot, der mit Stephanie Bru das – ebenfalls für den Schelling-Preis nominierte – Büro Bruther in Paris betreibt. "Die Gesellschaft ist instabil, sie verändert sich. Die Frage ist, wie man darauf reagiert. Uns geht es um Ideen, nicht um Dogmen. Dogmen sind 20. Jahrhundert. Das Starsystem ist vorbei." Dabei entsprechen Bruther selbst, auch wenn sie keine Stars sind, unter den Schelling-Kandidaten noch am ehesten dem klassischen Architektentypus. Sprich: Sie stellen neue Bauten her. Aber ihre Bauten wie das Kultur- und Sportzentrum in Paris, ein Laboratorium in Lausanne oder ihre Wohnbauten haben eine einprogrammierte Offenheit. Sie definieren nicht, sie ermöglichen.
Aristide Antonas wiederum fragte sich, wie man dem gebeutelten Athen wieder auf die Beine helfen kann, und entwickelte "Protokolle", die wie Drehbücher oder Spielregeln funktionieren, um die "Stadt als sozialen Raum", wie er sagt, wieder wirksam zu machen – zum Beispiel eine Bedienungsanleitung, sich Athens Dächer als Dachterrassen anzueignen. Antonas, der Philosophie in Paris studierte, ist Schriftsteller, Künstler und Architekt in einem. Sein Territorium sind die melancholischen, von der Infrastruktur zerfurchten Landschaften Griechenlands. Ein Haus, das er auf Hydra realisierte, und poetisch-düstere Entwürfe für Rückzugsorte an der Küste sind für ihn Orte des Denkens – nicht als Weltflucht, sondern als Umgang mit der Realität.
"Die Arbeitsweise dieser drei Büros ist extrem pragmatisch", sagt auch Keller Easterling, Schelling-Preisträgerin für Theorie. Easterling, die als Professorin an der Yale University lehrt, beschäftigt sich ebenfalls mit Infrastrukturen, vor allem solchen der Macht – für ihr Buch Extrastatecraft untersuchte sie so diverse Phänomene wie Werbevideos für Freihandelszonen, die Sprache von Normungsinstituten oder das Mobilfunknetz von Nairobi. Ein Versuch, herauszufinden, warum die Welt aussieht, wie sie aussieht, und warum sie an so vielen Orten genau gleich aussieht. Die Judo-Moves, die sie den Architekten vorschlägt: das anonyme Serienzubehör dieser globalen Anonymität zu manipulieren und nicht an das einzelne Objekt, sondern an das Dazwischen zu denken. In Zeiten, da sich die Welt und der eigene Berufsstand in der Krise befinden, ist die Antwort nicht Resignation, sondern Erfindungsreichtum. Mit einem Realismus, der so pragmatisch ist, dass man ihn schon visionär nennen kann. Die Zukunft wird zeigen, ob der Schelling-Preis auch hier ein Indikator für eine neue Ära war. -