Eine Ausstellung in Meran zeigt, wie die jüngsten Bauten aus Südtirol das hohe Niveau der letzten Jahre halten: mit ihrer eigenen Mischung aus alpiner Rauheit und südlicher Eleganz
Der erste Eindruck beim Überqueren des Brenners Richtung Süden: Alles wird milder, sanfter, sonniger, das Meer schon erahnt, man kennt das. Der zweite Eindruck ist widersprüchlicher. Er stellt sich ein, sobald die ersten Ortschaften auftauchen, mit ihrem Weichbild aus steinernen Dorfkernen, unglamourösen Gewerbegebieten und dem tiroltypischen Würfelhusten aus aufgequollenen Hotelburgen als Trägermasse für eine absurde Anzahl nutzloser Balkone. Man sieht: Die spektakuläre Schönheit der Landschaft Südtirols ist fragil und schnell gefährdet.
Gleichzeitig jedoch ist in Südtirol in den letzten 20 Jahren ein Bewusstsein für Baukultur und eine eng vernetzte Architekturszene entstanden, die eine konstant hohe Qualität produziert. Man muss sie nur suchen, denn sie vermeidet das Bombastische und ist eher im Ländlichen als im Städtischen zu finden.
Beispielhaft dafür ist einer der Meilensteine dieser Qualitätsoffensive: Der couragierte Umbau der Burg Tirol von Walter Angonese und Markus Scherer vor zehn Jahren sorgte für internationalen Applaus. 2006 zeigte eine Ausstellung in Meran stolz die Leistungen der Südtiroler Architektur am Anfang des neuen Jahrtausends.
Sechs Jahre später ist es Zeit für eine Neuauflage dieser Bestandsaufnahme. Neue Architektur in Südtirol 2006-2012 zeigt 36 von einer panalpinen Jury ausgewählte Projekte. Darunter ist wieder eine Adaption eines historischen Denkmals: Der Umbau der alten Franzensfeste, ebenfalls von Markus Scherer.
Festung mit Fugen
Das 20 Hektar große granitene Ensemble war bei seiner Errichtung 1838 das größte Festungsbauwerk der Alpen. Für die neue Nutzung als Ausstellungsort perforierte Scherer das grimmige Monument mit Stegen und Stiegen aus kantigem schwarzem Stahl. Die zwei Lifttürme, die aus den Katakomben an die Oberfläche stoßen, antworten mit ihrer groben Hülle aus sandgestrahltem Beton mit unregelmäßig aufklaffenden Fugen auf die Granitwände gegenüber. "Die Architektur soll eine Sprache sprechen, die nicht hermetisch ist, sondern prozesshaft", erklärt Scherer. "So kann sie altern, eine Patina entwickeln."
Eine Rauheit, die kennzeichnend für viele der gezeigten Gebäude ist. Die Auswahl lag dabei explizit auf kleineren, bescheidenen Bauten, die an Ort und Landschaft sensibel weiterbauen, anstatt sich klotzig in Szene zu setzen. Das reicht von minimalistischen Holzstadeln wie dem Atelier für Bildhauer Alois Anvidalfarei von Architekt Siegfried Delueg, das sich satteldachgekrönt in der Dorfmitte von Abtei im Pustertal tarnt, bis zum Neubau der Feuerwehr Margreid, für den Bergmeisterwolf Architekten Stollen in den Fels trieben, die sich nach außen nur durch eine schlichte schwarze Wandscheibe verraten.
"Dieses sensible Herantasten an Ort und Landschaft ist genau richtig für Südtirol", sagt Architekt Christoph Mayr Fingerle. Selbst mit drei seiner Bauten in der Ausstellung vertreten, ist Mayr Fingerle ein Pionier der Südtiroler Szene. Bereits 1992 initiierte er die Reihe Neues Bauen in den Alpen und 1999 den Südtiroler Architekturpreis. "Das hat zu einem Mehr an öffentlichen Wettbewerben und an Qualität geführt". Auch Markus Scherer konstatiert: "Die Entwicklung hin zu einer zeitgenössischen Architektur hat sich verstärkt. Es gab geradezu einen Schneeballeffekt."
Wenn auch die Bautätigkeit zuletzt krisenbedingt nachgelassen hat, wird in Südtirol noch immer um ein Vielfaches mehr Architektur produziert als in anderen Gebieten Italiens, wie Kurator Flavio Albanese im Vorwort des Katalogs anmerkt. "Im übrigen Italien wird innovative Architektur nur noch auf Mega-Events wie der Biennale in Venedig sichtbar", sagt auch Christoph Mayr Fingerle.
Mixtur mit Grandezza
Neben Burgen und Holzstadeln ist es vor allem eine ganze Reihe von Bauten für die wieder erblühte Südtiroler Weinwelt, die die übrigen Italiener neidisch nach Norden schauen lässt. Nicht nur hier haben auch österreichische Büros mit Südtiroler Wurzeln reüssiert. Feld72 aus Wien errichteten im Ortszentrum von Kaltern einen schmuck-kantiges Verkaufs-Showroom für die lokalen Weine. In Innichen formten die Wiener Architekten von alleswirdgut für das Zivilschutzzentrum einen flachen schwarzen Monolithen.
Dass viele Österreicher, und seit neuestem auch immer mehr Architekten aus Städten wie Mailand in Südtirol bauen, zeigt die Vielfalt einer Szene, die sich kaum auf einen simplen Nenner bringen lässt. "Wir sind an der Schnittstelle von Österreich, Schweiz und Norditalien, man orientiert sich also immer auch an den Nachbarn", sagt Markus Scherer.
Das Resultat: eine Mischung aus alpiner Handwerkstradition und italo-habsburgischer Grandezza, die sich vom protestantischen Minimalismus der kisten- und quaderaffinen Schweiz ebenso unterscheidet wie von konstruktiven Vorarlberger Holztüfteleien.
Was trotz dieser produktiven Mixtur auffällt, ist, dass Wohnhäuser jenseits der Einfamilienvilla ebenso wie städtische Bauten qualitativ hinterherhinken. Bozen ist unter den gezeigten Bauten kaum vertreten. "Dass wichtige Innovationen fast nur im ländlichen Raum passieren, liegt daran, dass das Gleichgewicht zwischen den Sprachgruppen in Bozen und Meran zu einer schwerfälligen Bürokratie führt, die über die Verwaltung hinaus kaum etwas Besonderes anstoßen kann", sagt Markus Scherer. "Noch dazu sind die privaten Bauherren in der Stadt durch Bauspekulation geprägt. Das ist natürlich auch kein fruchtbarer Boden für gute Architektur."
Die größte Lücke allerdings klafft ausgerechnet beim stärksten Wirtschaftszweig, dem Tourismus. Hier herrschen immer noch bombastische Balkonburgen und Wellness-Wildwuchs. "Was Hotels betrifft, ist die Kitscharchitektur leider noch sehr präsent", bedauert Christoph Mayr Fingerle. Spätestens wenn die nächste Meraner Ausstellung im Jahr 2018 Bilanz zieht, wird man sehen, ob sich auch das Weichbild der Südtiroler Landschaft geändert hat.
(erschienen in: Der Standard, 18./19.2.2012)