The Japanese House: Warum ist Herr Moriyama glücklich?

Ein Haus ist ein Haus. Aber kann es nicht auch eine Stadt sein oder ein Garten? Ganz ohne Wände? Wohl kein Land denkt so radikal über das Wohnhaus nach wie Japan. Eine Ausstellung in London feiert den Erfindungsgeist seiner Architekten

"Tree. Wind. Sky." Yasuo Moriyama streckt sich auf dem Boden an seiner offenen Fenstertür im ersten Stock, ein Buch in der einen Hand, mit der anderen fährt er sich durch seinen silbergrauen Haarschopf, er lächelt schüchtern-verschmitzt in die Kamera. Er deutet nach draußen: Baum. Wind. Himmel. Moriyama-san scheint ein Mensch zu sein, der alles hat, was er braucht. Das liegt möglicherweise daran, dass er in einem Haus wohnt, das genau auf ihn zugeschnitten wurde.

Wobei, Moment: Ist es wirklich ein Haus? Oder eher ein Dorf? Ein zu groß geratenes Architekturmodell, oder eine zu klein geratene Stadt? Zehn weiße Würfel, ein- bis dreigeschoßig, im kleinsten findet gerade mal eine Dusche Platz. Zwischen den Würfeln ist Draußen, rundherum ist Tokio. Doch Innen und Außen sind in Japan selten klar getrennt. Kein Wunder, dass Herr Moriyama am liebsten genau dort sitzt und liegt, wo sie verschwimmen.

Das Haus und der Film über seinen Benutzer bilden das Herzstück der Ausstellung The Japanese House, die vorige Woche im Londoner Barbican Centre eröffnet wurde. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die Begeisterung westlicher Architekten für japanische Häuser hat zurzeit den Zustand nahezu kompletter Hingabe erreicht. Nicht zum ersten Mal. Schon Frank Lloyd Wright war gegen Ende des 19. Jahrhunderts geradezu besessen von Japan, und Bruno Taut soll bei seinem Besuch der Katsura-Villa in Kyoto 1933 in Freudenschreie ausgebrochen sein.

Die im 17. Jahrhundert errichtete fürstliche Villa gilt als perfekt proportioniertes Gesamtkunstwerk aus Innenraum und Garten, als die Verkörperung der japanischen Idee des Hauses an sich. Ein Fixpunkt auch für einheimische Architekten selbst: In den 1950er-Jahren wurde sie von einer neuen Generation entdeckt, die in den klaren Linien etwas durch und durch Modernes wiederfand. Es war die Zeit für eine Neubesinnung: Nach dem Schock von Zerstörung und Niederlage 1945 begann eine Phase des Wiederaufbaus und damit verbunden ein permanentes Nachdenken über die "Japaneseness" und ihre Relevanz für die Gegenwart, gebündelt in der Frage: Was ist das eigentlich, ein Haus?

Diese Frage hat, wie die hervorragend recherchierte Ausstellung eindrucksvoll zeigt, bis heute eine Fülle an Antworten gefunden. Jede Generation von Architekten warf die Hauskonzepte der vorigen wieder über Bord. Die Stadtmaschinen der Metabolisten spiegelten die Technologiebegeisterung der 1960er-Jahre wieder und wurden umgehend abgelöst von der handfesten Erdigkeit des reinen Materials in den Häusern der 1970er-Jahre, die im kalten Beton etwas Warmes, Erdiges und Ur-Japanisches entdeckten. Kaum war der Beton getrocknet, brachten die atemlos boomenden 1980er-Jahre mit ihrer Erosion der traditionellen Kernfamilie auch die Häuser zur Auflösung. Es folgte Rezession und die nächste Neubesinnung, die Hauskonzepte wurden immer individueller, bis sich die einzelnen Räume so weit atomisierten, dass sie wieder in ein großes Ganzes bildeten. Diese Auflösung der Räume und das Versprechen neuer Arten des Zusammenlebens ist es, was die heutige Welle der Japan-Begeisterung beflügelt. Wie schaffen sie es nur, in so etwas Einfachem wie einem Haus ganze Weltanschauungen zu entdecken, während im Westen über Flachdach oder Satteldach gestritten wird?

Die Ausstellung liefert mehrere mögliche Gründe: die permanente Erfahrung von Zerstörung durch Naturkatastrophen, die komplizierte Erbschaftssteuer, der rapide gesellschaftliche Wandel. Ein Haus hat in Japan eine Lebenserwartung von gerade mal 25 Jahren, exakt eine Generation. Neuerfindungen sind vorprogrammiert. Auch Nicht-Japaner beteiligten sich immer wieder daran: 1949 zog der tschechisch-amerikanische Architekt Antonin Raymond nach Tokio. Seine Frau Noemi liebte die "effiziente Schönheit" japanischer Häuser, und ihr gemeinsames Domizil wurde zur Hommage: Tatami-Raster, verschiebbare Papierwände (shoji) und Räume, die weder ganz draußen, noch ganz drinnen sind. Eineinhalb Generationen später fragte sich Toyo Ito: Braucht man überhaupt ein Haus, wenn man die Stadt hat? Beauftragt mit dem Entwurf für eine Küche, entwarf Ito 1985 ein tragbares Zelt für urbane Nomaden beiderlei Geschlechts. Er selbst zog zu dieser Zeit durch die nächtlichen Bars von Shinjuku und Shibuya, schon damals keine Männerdomäne mehr: Auch Frauen blieben in der Zeit von Vollbeschäftigung und Feminismus längst nicht mehr still zuhause.

Die Möglichkeiten des Haus-Seins im 21. Jahrhundert: Das Roof House von Tezuka Architects, bei dem das ganze Flachdach als Freiluftwohnzimmer für die gesamte Familie fungiert, oder Sou Fujimotos Haus NA in Tokio: ein weißes Gerüst mit eingeschobenen Plattformen verschiedener Höhe und Größe. Ob man auf diesen Raumandeutungen sitzt, hockt, steht, isst oder schläft, ist im wahrsten Wortsinne offen. Ähnliche Auflösungserscheinungen kennzeichnen Ryue Nishizawas "Garden and House", das auf jegliche Wände verzichtet und vier Plattformen mit Gärten in einer winzige Baulücke stapelt. Was in anderen Häusern "Zimmer" heißt, ist hier der Raum zwischen Bambus, Topfpalme und Feigenbaum. Und hinter dem Feigenblatt die Stadt.

"Das Leben beschränkt sich nicht auf eine Parzelle", sagt Nishizawa. "Das menschliche Gespür für das Wohnen ist viel weiter gefasst, es hat keine Grenzen." Was uns wieder zu Herrn Moriyama und seinem Leben auf der Schwelle zwischen Innen und Außen führt. Auch sein Haus stammt von Nishizawa, und dieses Haus ist es auch, das in der Ausstellung im Maßstab 1:1 nachgebaut wurde, die dünnen weißen Wände verschneiden sich in maximalem Kontrast mit dem betonschweren Brutalismus des Barbican. Was macht ausgerechnet dieses Haus so besonders? "Während meiner Feldforschung in Japan war der Besuch bei Moriyama-san das eindrücklichste Erlebnis. Die Architektur hat ihn zum Künstler gemacht, er performt sein Haus wie eine Choreografie", schwärmt Ausstellungskuratorin Florence Ostende im Gespräch mit dem STANDARD. "Deswegen war es mir wichtig, ein Haus aus der Sicht seines Bewohners zu zeigen. Die Besucher sollen sich als Gäste fühlen." Mit entsprechendem kuratorischem Aufwand: In mehrmonatiger Kleinarbeit wurde der gesamte Moriyama-Besitz – Bücher, LPs, Pflanzen, Poster – in London rekonstruiert. Mit dem Ergebnis, dass man am liebsten direkt vom Barbican nach Tokio fliegen möchte, um mit ihm über Bäume, Wind, Himmel und die Musik von Sonic Youth zu reden. Man muss sich Moriyama-san als glücklichen Menschen vorstellen.

 

Erschienen in: 
Der Standard, 1./2.4.2017