Wiens Hauptbahnhof ist mehr oder weniger eröffnet. Eine Kathedrale will er nicht sein. Aber ist er mehr als nur eine Haltestelle mit einem Dach darüber und einem Shoppingcenter darunter? Leider nein.
Bevor wir anfangen, eine grundsätzliche Frage: Ist eine Architekturkritik angebracht, wenn der betreffende Bauherr darauf besteht, dass der Bau, um den es geht, gar keine Architektur sei? Dass ein Resultat technischer Notwendigkeiten und wirtschaftlicher Flächenverwertung eben nur genau dies sei, und nicht mehr? Wenn wir diese Frage mit Nein beantworten, können wir an dieser Stelle aufhören und uns anderen Dingen widmen. Der Oktober ist ja nach dem schlimmen Sommer wieder recht schön sonnig geworden, nicht?
Nun handelt es sich in diesem Fall allerdings um den Hauptbahnhof einer bedeutenden europäischen Hauptstadt. Die Hauptstadt heißt Wien. So einfach ist die Sache also nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Hauptbahnhof ein Gebäude darstellt, werden wir uns mit seiner Architektur zu beschäftigen haben. Vergangenes Wochenende wurde dieser Hauptbahnhof offiziell eröffnet. Mehr oder weniger – denn Züge fahren ihn schon seit 2012 an, der nächste Fahrplanwechsel ist erst im Dezember, und der Vollbetrieb mit 100 Zügen pro Tag wird überhaupt erst in zwei Jahren erreicht. Der Bahnhofsbau selbst ist aber schon fertig, und um diesen soll es gehen.
ÖBB-Geschäftsführer Christian Kern sagte zur Eröffnung Folgendes: Seien Bahnhöfe früher Kathedralen der Mobilität gewesen, sollten sie heute vor allem funktional sein. Ein Landmark-Projekt sei der Wiener Hauptbahnhof trotzdem. Funktional, das war in den Eröffnungstagen auch im Gedränge von Familien, Luftballons, Pensionisten, Prospektverteilern in Eisstanitzelkostümen und Begleitprogrammrambazamba deutlich, ist der Bahnhof. Man kommt hinein, findet die Anzeigetafel und Ticketschalter, findet die Bahnsteige. Die Halle ist übersichtlich, das Leitsystem logisch. Aber ist das schon Architektur?
Um das herauszufinden, hilft ein Rückblick in die Projektgeschichte. Schon ab 1989 machte man sich Gedanken über den in die Jahre gekommenen Südbahnhof und die angrenzenden Areale. 1995 fand das erste Expertenverfahren statt, Sieger war der Schweizer Architekt Theo Hotz, 2000 folgte ein städtebauliches Leitbild von Ernst Hoffmann. Ende 2003 schließlich vereinbarten der Bund und die Stadt Wien die Errichtung eines neuen Durchgangsbahnhofs. 2004 wurde für die frei werdende 55 Hektar große Fläche inklusive Bahnhof ein städtebaulicher Masterplan von Ernst Hoffmann und Theo Hotz gemeinsam mit Albert Wimmer erstellt. Was den Bahnhof betreffe, sei die oberste Priorität eine „Verbindung von Handel- und Dienstleistung mit der Bahnhofshalle“, hieß es damals.
Wohlgemerkt: Hierbei ging es um die Entwicklung eines neuen Stadtviertels, das nach mehreren Umbenennungen und Umplanungen heute südlich der Bahntrasse „Sonnwendviertel“ und nördlich davon „Quartier Belvedere“ heißt. Der ebenfalls mehrmals umbenannte Bahnhof selbst lief sowohl planerisch als auch finanziell als ein Posten dieser Großplanung mit. Als die Projektkosten von 423 Millionen auf 784 Millionen und schließlich 1072 Millionen Euro anstiegen, monierte der Rechnungshof in einem Bericht 2010, die Kalkulation von Grundstückserlösen und Kosten der damaligen ÖBB Infrastruktur Bau AG sei aufgrund der Vermischung von Einzelprojekten kaum noch nachvollziehbar.
Die Frage, wie der Bahnhof selbst denn eigentlich aussehen sollte, verkam derweil zum Nebenschauplatz. Die ÖBB warben und informierten zwar ausführlich im „Bahnorama“ mit beeindruckenden Zahlen über Städtebau und Gleisbauarbeiten, doch in Sachen Architektur beschied man sich mit der immer gleichen Visualisierung eines hellen, gezackten Rautendaches. Warum man keinen gesonderten Architekturwettbewerb für den Bahnhof ausschrieb, wie in anderen Städten üblich? Ein Bahnhof sei eben primär ein funktionales Gebäude, ein Stück Infrastruktur, weniger eine architektonische Herausforderung, hieß es seinerzeit seitens der ÖBB.
Man kann nun einwenden, es sei ja eher Aufgabe der Stadt als der Bahn, sich über die Rolle und den Wert eines Bahnhofs in der Stadt Gedanken zu machen. Einen Hauptbahnhof baut man schließlich nicht jedes Jahr. Bedenklich wird es nur, wenn sich gar niemand Gedanken darüber macht. In anderen Städten tut man das nämlich sehr wohl. Wirft man einen Blick auf europäische Bahnhofsbauten jüngster Zeit, wird die lapidare Aussage, dass Bahnhöfe heute eben keine Kathedralen der Mobilität seien wie noch zur Gründerzeit, nur schwer haltbar.
So hat der 2006 eröffnete Hauptbahnhof in Berlin zwar Kritik einstecken müssen, sogar von seinem eigenen Architekten Meinhard von Gerkan, der sich mit dem Auftraggeber zerstritt, unstrittig ist aber: Mit seiner markanten Betonung des Ost-West-/Nord-Süd-Kreuzes, mit seinem riesigen Schaufenster zu Reichstag, Kanzleramt und Spree und mit seinem durchgehenden Luftraum über alle Geschoße ist er ein Bahnhof, der für seine Stadt maßgeschneidert wurde. Er könnte nirgendwo anders stehen als dort, wo er steht. Infrastruktur mit Mehrwert, die sich ihrer Lage und Bedeutung bewusst ist. Nebenbei zeigt der Berliner Bahnhof, dass man Gleistrassen auch auf dünne Stelzen stellen kann.
Was hat man stattdessen in Wien bekommen? Eine durchrauschende Gleistrasse auf einem geschlossenen, meterhohen Damm zwischen zwei neu entwickelten Stadtteilen, dort, wo eigentlich der vierte und zehnte Bezirk wieder zusammengeführt werden sollten. Eine Einkaufspassage mit 20.000 Quadratmetern und 115 Shops im Erd- und Untergeschoß. Ausblicke auf die Stadt werden Ankommenden kaum gewährt. Wozu auch mehrere einladende Durchgänge schaffen, wenn doch alle Passanten an den Verkaufsflächen vorbeigeschleust werden sollen? Wozu Sichtverbindungen nach oben und unten, wenn das Auge nach der Entwurfslogik von Shopping-Malls horizontal auf Schaufensterhöhe gehalten werden soll? Zugegeben: Die Eingangshalle im Norden ist übersichtlich geraten, die Materialien sind langlebig und solide verarbeitet. Funktional ist der Bau in der Tat. Aber reicht das schon aus?
Schauen wir uns weiter um in Europa. Da gibt es die atemberaubende Konstruktion aus dünnen Parabelbögen mit 157 Metern Spannweite als Bahnsteigdach, die Santiago Calatrava 2009 für den Bahnhof Lüttich-Guillemins errichtete. Oder das grazil gekrümmte, weiße Halbkreisdach von John McAslans preisgekrönter Erweiterung des Bahnhofs King’s Cross in London 2012. Diese Bahnhöfe sind definitiv mehr als nur Infrastruktur. Sie lassen sich sehr wohl als Kathedralen der Mobilität bezeichnen, was ihrem Funktionieren nicht abträglich ist. Warum sollte es auch.
Was hat man stattdessen in Wien bekommen? Ein von oben besehen zwar helles, aber von innen düsteres Rautendach mit kleinen seitlichen Lichtschlitzen über dunklen und zugigen Bahnsteigen. Mehr eine breite Haltestelle als ein Bahnhof. Als einziger Bauteil, der den Wunsch transportiert, „Architektur“ sein zu wollen, ist das Dach eine schwache Geste, wird seine beabsichtigte Dynamik von der schwerfälligen Konstruktion konterkariert.
Man hat all diese Dinge nicht bekommen, weil man nicht danach gefragt hat. Wer nur eine funktionierende Infrastruktur mit maximaler Rendite will, bekommt eben kein Aushängeschild und schon gar keine Kathedrale. Man bekommt: eine funktionierende Haltestelle und ein funktionierendes Einkaufszentrum. Wenn die Wiener von einem Hauptbahnhof wirklich nicht mehr erwarten als das, können wir alle zufrieden sein.
Wenn nicht, ist der Hauptbahnhof eine verpasste Chance, die nicht wiederkommt.